Lisbeth 02 - Ein Mädchen von 17 Jahren
war blaß und zart, kühl und still geblieben, ihr Haar war genauso ordentlich und umrahmte in den gleichen weichen Wellen das Gesicht wie vordem, als sie Heming und mir die Hand reichte und sich für den schönen Abend bedankte.
„Ich kann mich wahrhaftig nicht auf deinen Namen besinnen“, sagte ich. „Lisbeth hat so viele Freundinnen…“
„Ich heiße Marianne Vesterholm“, sagte das junge Mädchen in Grün.
„Am Tage nach einer Gesellschaft mit Tanz soll man nun einen Aufsatz schreiben!“ seufzte Lisbeth, als sie zum Abendessen herunterkam. „Das müßte gesetzlich verboten sein!“ Sie gähnte herzhaft und streckte ihre mit Tinte befleckte Hand nach dem Brotteller aus.
„Eigentlich hättest du deinen Aufsatz vor dem Tanzvergnügen schreiben können“, sagte Heming. Aber seine Stimme klang resigniert. Er hatte mit Lisbeths Neigung, immer alles aufzuschieben, schon manche bittere Erfahrung gemacht.
„Ja, in der Theorie“, antwortete Lisbeth. „Es wird nur nie etwas daraus. Außerdem arbeite ich am besten, wenn ich unter Druck stehe.“
„Hast du schon jemals versucht, ohne Druck zu arbeiten?“ fragte Heming sanft.
„Nein“, sagte Lisbeth. „Aber du brauchst nicht den gestrengen Pädagogen herauszukehren. Solange ich ,sehr gut’ in meiner Muttersprache bekomme, hast du keinerlei Veranlassung, mir Vorhaltungen zu machen.“
„Leider muß ich zugeben, daß deine Logik unangreifbar ist. Aber vielleicht könntest du ,lobenswert’ bekommen.“
„Wo denkst du hin!“ rief Lisbeth. „Hast du in deiner Muttersprache jemals ,lobenswert’ bekommen?“
„Nein“, gestand Heming, „im allgemeinen nur ,gut’.“
„Da siehst du es.“
Wir aßen weiter. Peik und Lisbeth wetteiferten miteinander, was den Appetit betraf.
„Du, Lisbeth“, erkundigte sich Heming plötzlich. „Wo hast du Marianne Vesterholm kennengelernt?“
„Marianne? Ich traf sie auf einer Gesellschaft bei Berit. Sie machte einen so verlassenen Eindruck, und da dachte ich, es könnte ihr ganz gut tun, an unserem kleinen Hausball teilzunehmen. Findest du sie nett?“
„Ja“, antwortete Heming. „Es ist etwas an ihr. Ich hätte Lust, mich ihrer ein wenig anzunehmen, gut zu ihr zu sein.“
„Paß auf, Mutti!“ lachte Lisbeth. „Wenn ein Mann von sechsunddreißig Lust verspürt, zu einem Mädchen von zwanzig gut zu sein, dann sieht die Sache gefährlich aus.“
„Rede keinen Unsinn!“ sagte ich. „Erzähle uns lieber von Marianne! Auch mir hat das junge Mädchen gefallen.“
„Du bist eine geschickte Diplomatin, Ma. Du teilst die Interessen deines Mannes im großen wie im kleinen – sogar dann, wenn es sich um junge Damen handelt…“
„Hör endlich auf, solch dummes Zeug zu reden!“ rief Heming. Seine Stimme klang so energisch, daß Peik, der gerade an einem Stück Brot mit Honig kaute, erschrocken aufblickte. Lisbeth wurde rot.
„Entschuldigt. – Ja, ich rede heute vielleicht zuviel dummes Zeug. Ich bin aber auch ganz schrecklich schläfrig. - Marianne ist zwanzig Jahre alt“, fuhr sie sachlich fort, „und sie und ihre Mutter haben bei Berit ein Zimmer und eine Behelfsküche.“
„Geht Marianne in eine Schule?“
„Nein! Sie ist als Hilfskraft in einem Kindergarten tätig. Ihre Mutter ist in einem Modegeschäft angestellt. Sie garniert Hüte. Ich habe Frau Vesterholm nur selten gesehen. Sie siehtübrigens sehr nett aus, ist aber ebenso blaß wie Marianne und spricht kaum ein Wort. – Ein mächtig sympathisches Lächeln hat sie“, fügte Lisbeth noch schnell hinzu.
„Mir hat das junge Mädchen sehr gut gefallen, Lisbeth. Und ich bin derselben Meinung wie Heming: wir sollten etwas für sie tun. Glaubst du, daß sie sehr einsam ist?“
„Ja. Sicher. Sie wohnen ja erst seit einem Monat hier, und es liegt ihnen nicht, mit anderen Leuten Bekanntschaft zu schließen.“
„Kannst du nicht Marianne hin und wieder mitbringen? Vielleicht tut es ihr gut, wenn sie unseren mehr oder weniger lebhaften Gedankenaustausch und Peiks philosophische Betrachtungen mit anhören kann und…“
„…. kurz gesagt, zu einem normalen und keineswegs langweiligen, aber glücklichen Heim Zugang erhält“, vollendete Lisbeth den Satz.
„Ganz recht“, sagte Heming. „Manchmal kann ich es direkt verstehen, daß du in deiner Muttersprache die Note ,sehr gut’ hast. Es kommt tatsächlich vor, daß du die richtigen Ausdrücke findest.“
„Danke für das Kompliment“, sagte Lisbeth feierlich, dann wandte sie
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