Lisbeth 02 - Ein Mädchen von 17 Jahren
deinem Vater jetzt, Marianne?“ fragte ich.
„Er hat wieder geheiratet und sich nochmals scheiden lassen. Es war eine sehr schöne und sehr feine Dame. Sie war wohl auch recht nett – jedenfalls hörte ich das von ihr –, und sie verstand es, als Hausfrau zu repräsentieren, elegant auszusehen und was dergleichen mehr ist. Aber ihr wißt ja: Wenn eine Ehe nur auf Eitelkeit aufgebaut ist, kann das niemals gut gehen.“
Marianne schwieg. Lisbeth blickte sie mit großen Augen an. „Nein, Marianne – ich kann es einfach nicht glauben – du bist die Tochter von…?“ sie brach ab. Ich merkte, daß sie die Erinnerung an Carl überkam, und ich dachte daran, wie grenzenlos unsympathisch er ihr gewesen war.
Marianne lächelte. Es war ein wehmütiges, blasses Lächeln.
„Soll ich dir noch mehr erzählen, Lisbeth?“
„Ja…“
„Jetzt erzähle ich dir etwas, Lisbeth. Nur dir! Denke daran.“
„Soll ich hinausgehen?“
Ich wollte meine Hand aus Mariannes lösen, aber sie hielt mich fest.
„Nein, Steffi! Du sollst bleiben. Du sollst hören. Aber ich spreche zu Lisbeth.“
Ich setzte mich wieder hin.
„Lisbeth“, sagte Marianne, „kannst du es verstehen, daß man sich in der Gegenwart eines Menschen höchst unbehaglich fühlen kann? Selbst wenn es ein Mensch ist, der einem nie etwas zuleide getan hat? Kannst du es verstehen, daß man ihm gegenüber dasselbe Gefühl hat, wie wenn man – ja, wie wenn man eine große ekelhafte Spinne sieht?“
„Ja“, sagte Lisbeth. „Dieses Gefühl habe ich schon manchmal gehabt.“
„Ich auch“, sagte Marianne. „Als ich klein war, hatte ich dieses Gefühl, wenn ich nach unten kommen und Vaters Gäste begrüßen sollte. Natürlich waren unter ihnen nette Menschen – das ist es nicht – aber Vater gab in unserem Hause den Ton an. Wie soll ich dir das erklären? – Weißt du, Lisbeth – es war ein flacher Ton, ein Ton ohne Widerhall – ohne Tiefe – es war keine menschliche Wärme in ihm, kein Herz… Jetzt, da ich zwanzig Jahre alt bin, versuche ich in Worte zu kleiden, was ich als Kind nur ahnte und fühlte. Verstehst du, Lisbeth? Die Leere, die hohle Schale, die unser Heim im Grunde war… weißt du, was ich meine?“
„Ja“, flüsterte Lisbeth.
„Und dann kam ich – zu euch. Und hier fand ich, wonach ich mich immer mehr oder weniger bewußt gesehnt hatte: die Wärme, die Offenheit, die Freundschaft. Hier wachte ich auf, hier wurde ich meiner selbst bewußt, und hier lernte ich…“ Marianne schluckte, und ihre Stimme wurde ganz rauh, „hier lernte ich Nils kennen…“
Wieder drückte Marianne mir die Hand. Dann fuhr sie fort. „Eines Tages begleitete ich Vater einmal nach Oslo. Da besuchten wir jemand, der mit Vater befreundet war. Es war ein schrecklich feines Haus, noch feiner als unseres. Aber da, verstehst du – da spürte man die Flachheit und Leere und Kälte noch stärker. Vielleicht war ich ein überempfindliches Kind, ich weiß es nicht – und natürlich hätte ich es damals nicht so erklären können, wie ich mich jetzt ausdrücke – ich weiß nur, daß ich eingeschüchtert und bedrückt war. Ich liebte nicht die flotte Frau, die durch das Zimmer rauschte, und ich liebte nicht den Herrn des Hauses, und ich zuckte zurück, als er mir über den Kopf strich, dennich fühlte, daß er sich gar nichts dabei dachte, daß er ein Mensch war, der Kinder nicht liebte.
Ich wurde mit seinem Sohn bekannt gemacht – einem kleinen zwölfjährigen Jungen. Wir sollten Limonade und Kuchen bekommen. Ich saß mit offenem Munde da und machte große Augen, als ich sah, wie der Junge das Stubenmädchen tyrannisierte und herumkommandierte. Plötzlich sagte er, er wolle mir seine kleine Katze zeigen. Er holte das Tierchen und – und…“
In Mariannes Augen trat ein leidender Ausdruck. Ihre Stimme versagte.
„Wenn es sich um Tierquälerei handelt, so rede bitte nicht weiter!“ rief Lisbeth. Ihre Augen waren weit aufgerissen.
„Gut, Lisbeth. Wenn dir das, was ich gesagt habe, genügt, so werde ich nicht weitererzählen. Aber ich möchte nur noch eins sagen: Dieser Junge war Erling Boor!“
Lisbeth sprang auf, blieb stehen und sah Marianne an.
„Das ist nicht wahr!“
„Es ist wahr, Lisbeth.“
„Aber – er erkannte dich doch gar nicht wieder…“
„Ich war damals acht Jahre alt, Lisbeth. Jetzt bin ich zwanzig. Und er hatte mich nur das eine Mal gesehen. Er konnte mich kaum wiedererkennen.“
Lisbeth schwieg. Alles Blut war ihr aus dem
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