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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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In dem Paket, das Amanda mir nach Tail’s End nachgeschickt hatte, war auch mein Hebräischlehrbuch gewesen, doch ich hatte, seit ich hier war, nicht ein Mal hineingeschaut. Bei den Shepards war es mein größter Wunsch gewesen, ganz jüdisch zu sein, es hatte mein Denken und Fühlen beherrscht wie nichts zuvor. Wie hatte es nur so rasch an Bedeutung verlieren können?
    Einen einzigen Abend setzte ich mich nach Garys Mahnung mit dem Hebräischbuch aufs Sofa der Stones, um zu üben, doch die Blicke, die sie mir zuwarfen, waren verwundert und auch für mich fühlte es sich nur noch seltsam an. Was immer das Geheimnis war, das ich einmal geahnt hatte – ich hatte es verloren. Das bequeme Judentum der Stones, das keine Gesetze und nur die allerwichtigsten Feste kannte, reichte für mich bereits völlig aus.
    An diesem Abend nahm ich meine Metallkassette und versenkte Garys Kette tief unter meinen Briefen und Fotos. Ich war es nicht wert, sie zu tragen.
    Der 26. Januar kam und damit der Tag, an dem sich mein Abschied von zu Hause zum ersten Mal jährte. Es kränkte mich ein wenig, dass Mamu es nicht erwähnte, doch zu meiner Überraschung erhielt ich einen Brief von Papa, der das Datum würdigte! Dabei war unser Abschiedstag der 9. November … seit fünfzehn Monaten hatte ich meinen Vater nicht gesehen.
    Liebe Ziska! Wer hätte gedacht, dass wir uns für so lange Zeit würden trennen müssen? Ich bin so stolz auf dich, wie gut du dich in der Fremde zurechtfindest! Doch nächstes Jahr am 26. Januar möchte ich dir nicht schreiben müssen, da wir dann hoffentlich alle wieder beisammen sind.
    Mir geht es schon viel besser. Ich unternehme jeden Tag einen einstündigen Spaziergang, ganz langsam, aber immerhin, und schaue übers Meer in Richtung England. An deinem Geburtstag will ich um elf Uhr vormittags dort stehen. Machst du mit? Ich bin gespannt, ob du kommst und ob unsere Gedanken sich über dem Wasser treffen …
    »Er hat bestimmt nicht daran gedacht, dass mein Geburtstag ein Schultag ist«, sagte ich zu Mrs Collins. »Darf ich trotzdem ans Meer?«
    »Selbstverständlich«, erwiderte sie sofort. »Aber nimm eins von den anderen Kindern mit, ich möchte nicht, dass du in diesen Tagen allein unterwegs bist.«
    Dies bezog sich auf die jüngsten Spekulationen über einen unmittelbar bevorstehenden deutschen Angriff auf unsere Küste. »In Ordnung, ich frage Hazel!«, versicherte ich ihr dankbar. »Und Ey-Dolf kommt sowieso mit.«
    »Ich wünschte wirklich, sie hätten dem armen Hund einen anderen Namen gegeben«, murmelte Mrs Collins schaudernd.
    Hazel stimmte zunächst zu, an meinem Geburtstagsvormittag mit mir ans Meer zu wandern, doch als es so weit war, erlebte ich eine Überraschung. Mit verschwörerischem Lächeln nahm sie mich vor Schulbeginn beiseite und flüsterte: »Ich komme gerne mit, aber du solltest wissen, dass jemand anderes noch viel lieber mit dir gehen würde!«
    Bedeutungsvoll nickte sie halb über ihre Schulter und ich sah Wesley Howard mit knallroten Ohren an der Wand lehnen. »Wesley?«, fragte ich verdutzt. »Wieso denn der?«
    »Ich nehme an, er möchte dir etwas sagen«, erwiderte Hazel weise.
    Der Spaziergang mit Wesley zog sich hin. Falls er mir etwas Bedeutendes hatte sagen wollen, dann musste er es in der Zwischenzeit wohl vergessen haben. Bei den Stones, wo wir Ey-Dolf abholten, brachte er immerhin noch ein »Guten Tag« heraus, aber dann trottete er nur noch stumm neben mir her und brachte mich zur Verzweiflung.
    »Stell dir vor, die Deutschen nehmen gerade in dem Moment den Strand ein, wo wir dort eintreffen! Was würdest du tun?«
    »Och … hm …«
    »Wir müssten Geschützfeuer hören, wenn es so wäre, meinst du nicht?«
    »Hm … tja …«
    »Ich persönlich glaube nicht, dass sie eine Landung versuchen, ohne vorher unsere Flotte auszuschalten. Dann hätten wir auf jeden Fall genug Zeit, zurück ins Dorf zu rennen … oder wäre es besser, uns im Wald zu verstecken?«
    »Tja … pfff …«
    Enttäuscht und wütend stopfte ich die Hände in die Manteltaschen und gab auf. Nach einer Weile rief ich: »Komm, Ey-Dolf, wir rennen ein Stück!«, und lief ihm einfach davon.
    War dies etwa nicht mein Geburtstag? War dies etwa nicht mein Spaziergang? Na also!
    Sollten die Deutschen eine Invasion unseres Strandes geplant haben, so war mein Geburtstag jedenfalls nicht der Tag. Blass und grau lag die See vor mir, nur ein einziges Schiff war ganz weit draußen als heller Fleck

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