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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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ihrerseits die Friedhofsmauer zum Treffpunkt erkoren hatten. Den gemeinsamen Bunkerkämpfen des letzten Jahres hatten wir abgeschworen, ein stillschweigendes Übereinkommen auf beiden Seiten, das mit einschloss, einander – obwohl streng getrennt – doch ständig im Blick zu haben.
    Mein rechter Arm und der linke von Hazel waren in diesem Frühjahr so fest verhakt, dass wir beinahe blaue Flecken bekamen. Wir legten unser Taschengeld zusammen, um eine Zeitschrift für junge Damen zu abonnieren, und schwärmten für die fröhliche Vera Lynn, ohne deren Wartime Song viele der evakuierten britischen Kinder nicht mehr zu Bett gehen mochten:
    Good night children, everywhere,
your Mummy thinks of you tonight.
Lay your head upon your pillow,
don’t be a kid or a weeping willow.
Close your eyes and say a prayer,
and surely you can find a kiss to spare.
Though you are far away,
she’s with you night and day.
    Dass eine andere wieder meine beste Freundin sein würde, sobald der Krieg vorbei war, störte Hazel nicht. »Mein Vater sagt, Krieg besteht man durch Anpassung an Ausnahmesituationen«, belehrte sie mich. »Warum soll ich also nicht deine beste Freundin für den Krieg sein?«
    Einer der ersten frühlingswarmen Tage Mitte April sah uns wieder auf dem Rand des Dorfbrunnens sitzen, zu siebent oder acht – zu diesem Zeitpunkt waren von den ursprünglich vierzig nach Tail’s End evakuierten Kindern nur noch dreiundzwanzig übrig, und an diesem Morgen hatte uns Mrs Collins mit einer nicht ganz unerwarteten Nachricht elektrisiert: Unsere Evakuierung von der gefährdeten Küste ins sichere Landesinnere war in die Wege geleitet worden!
    Dies betraf nicht nur uns Londoner Kinder, sondern auch die gesamte Jugend von Tail’s End und Tail’s Mews, seit Tagen schon Quelle nicht endender Diskussionen im Hause Stone. Pearl und Herbert würden mitkommen, das war bereits beschlossen, doch von Rachel und Luke mochte sich ihre Mutter einfach nicht trennen.
    Ich hatte nicht erwartet, dass Mrs Stone mir einmal leidtun würde, aber wenn ich ihre rot geweinten Augen sah, konnte ich gar nicht anders. »Alles halb so schlimm«, behauptete ich. »Und es wird schon meine dritte Evakuierung, ich muss es also wissen!«
    Aber nichts konnte sie trösten oder ihr die Entscheidung irgendwie erleichtern.
    »Diesmal wird alles geordneter ablaufen als bei der Evakuierung aus London«, überlegte Lesley. »Wir sollten Mrs Collins eine Liste übergeben, wer von uns zusammen in eine neue Familie will.«
    »Gute Idee!«, sagte Hazel schnell und rückte näher an mich heran.
    Wir beide waren unter den Ersten, die Lesley auf ihre Liste schrieb. Zufrieden sahen wir uns an und mein Blick streifte dabei flüchtig die einzelne Fußgängerin, die in einiger Entfernung die Straße aus Tail’s Mews hinaufstieg. Sicher war sie mit dem Zug, der seit Kriegsbeginn nur noch zwei Mal täglich am Nachbarbahnhof hielt, in der Stadt gewesen, denn sie trug – ungewöhnlich für unser kleines Dorf – Hut und Regenschirm. Zwei, drei Minuten und sie würde nahe genug herangekommen sein, um zu erkennen, wer es war.
    »Wenn die kleinen Stones mitkommen, müssen wir Luke dazunehmen. Luke Stone«, diktierte ich Lesley. »Er ist viel mehr an mich gewöhnt als an seine älteren Geschwister.«
    »In Ordnung! Luke ist süß!«, schwärmte Hazel.
    »Und einen Hund«, fügte ich hinzu. »Ey-Dolf Stone.«
    Lesley hörte auf zu schreiben. »Du machst Witze«, sagte sie, worauf ich behauptete: »Unter bestimmten Umständen dürfen auch Hunde mit!«, was eine glatte Lüge war. In Wahrheit war ich überzeugt, Ey-Dolf schon unterbringen zu können, wenn ich ihn erst einmal dabeihatte.
    Schulterzuckend schrieb Lesley: »Adolf Stone, dog«, setzte aber eine Klammer mit einem Fragezeichen dahinter.
    Inzwischen waren es schon mehrere von uns, die nach der Fußgängerin schauten. In Tail’s End mit seinen knapp sechzig Einwohnern stieß jede außerplanmäßige Bewegung auf der Dorfstraße auf Interesse.
    »Ist das Mrs Caine?«, fragte Brigid.
    »Nein, Mrs Tingle vielleicht«, erwiderte Karen und wandte sich wieder der Liste zu.
    »Frances? Bist du in Ordnung?«, drang Hazels verwunderte Stimme an mein Ohr.
    Ich war vom Brunnenrand heruntergerutscht, stand auf dem runden Podest aus Pflastersteinen und schwankte vor Schreck. Mein Blick klebte an der Fußgängerin, die immer noch ein gutes Stück entfernt war, und ich flüsterte: »Das kann nicht sein!«, obwohl ich es doch

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