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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Untertassen. »Mit Sicherheit wissen«, sagte sie dunkel, »kannst du es erst in ein paar Monaten. Frag Brigid und Emma!«
    In ein paar Monaten! Von Stund an fühlte ich mich wie von einer schwarzen Wolke umhüllt. Ob bei einer Schulaufgabe an der Tafel, einer Unterhaltung bei Tisch, beim Hören einer Radiosendung: Kaum hatte ich zwischendurch etwas anderes gedacht, geredet oder gar gelacht, war sie wieder da, eine dunkle, neblige Bedrohung: In ein paar Monaten …!
    Erschrocken stieß ich sie beiseite, tat als ob nichts wäre, auch Hazel hatte ihren Verdacht offenbar bald vergessen. Doch in meinen Albträumen sah ich mich anschwellen wie einen Sperrballon und an einem Stahlseil über Tail’s End schweben, bis alle Bescheid wussten über meine Demütigung. In der kleinen Menschenmenge, die zu mir aufschaute, stand Mrs Collins und rief angstvoll: »Holt sie herunter, wir müssen sie ins Krankenhaus bringen!«
    An dieser Stelle wachte ich zum Glück immer auf, was wohl der Tatsache zu verdanken war, dass mein Wissen über die Lebendigwerdung von Babys an dem Ort endete, wohin Frauen gingen, um sie entfernen zu lassen. Verzweifelt lag ich auf meiner Matratze, starrte an die Decke und versuchte die allerletzte und schrecklichste Konsequenz nicht zu Ende zu denken: Wesley heiraten zu müssen und bis ans Ende meiner Tage von ihm geküsst zu werden!
    Erst als zwei Monate nach dem schicksalhaften Vormittag am Strand das Stück Kordel, das ich mir zur Kontrolle um den Bauch gebunden hatte, keinerlei Veränderung meines Umfangs anzeigte, erlaubte ich mir aufzuatmen. Ich schnitt es durch und warf es weg und war froh, dass ich niemandem diese zutiefst peinlichen und beschämenden Nöte anvertraut hatte.

14
    Die Deutschen griffen nicht die britische Küste an. Am 9. April besetzten sie ohne jede Kriegserklärung Dänemark und Norwegen, eine Meldung, die unsere Fähnchen im Klassenraum in heftige Bewegung brachte. Britische und französische Truppen wurden nach Norwegen verschifft, doch der Widerstand war nur von kurzer Dauer.
    Für meine Eltern, die all ihre Hoffnung darauf richteten, dass Hitler die Neutralität Hollands respektierte, musste sein Einmarsch in zwei friedliche Nachbarländer ein schwerer Schlag sein und ich schickte beiden sofort aufmunternde Briefe. Aber auch die Engländer wurden zunehmend nervös. Die sogenannte Unbedenklichkeitsbescheinigung, die meine Pflegeeltern Walter ausgestellt hatten, reichte nun nicht mehr und er wurde zu einem persönlichen »Interview« vorgeladen, um festzustellen, ob er ein freundlicher oder feindlicher Ausländer war.
    … Ich habe versucht zu erklären, dass ich Jude bin, doch das interessiert die gar nicht. Ob sie uns nach Deutschland zurückschicken? Betroffen sind alle in England lebenden Deutschen und Österreicher zwischen sechzehn und fünfundsechzig, Frauen wie Männer, also wohl auch viele der Jugendlichen vom Kindertransport.
    Die Stimmung uns gegenüber hat sich gewandelt. Manchmal werde ich jetzt an der Kinokasse beschimpft, wenn Leute meinen deutschen Akzent hören. Vorgestern hat sich Mrs Shepard meinetwegen mit einem Besucher angelegt! Sie wurde richtig laut, kannst du dir das vorstellen? Nun soll ich nicht mehr alleine im Kino übernachten und fahre heute nach der Vorstellung erstmals mit ihr nach Hause. So hat mein kurzes selbstständiges Leben leider schon wieder ein Ende!
    Meine Hoffnung auf eine schnelle Befreiung von dieser Plage sinkt. Die freie Welt sieht hilflos zu, wie die Deutschen sich immer weiter ausbreiten. Wo bleiben die Amerikaner? Wie lange wollen sie noch warten? Entschuldige, ich will nicht so negativ sein, verliere nur langsam die Geduld mit alldem. Glücklicherweise hält Holland durch – wie gut, dass deine Eltern dorthin geflüchtet sind und nicht nach Skandinavien!
    Eine Erleichterung, die ich von ganzem Herzen teilte, auch wenn Tail’s End seltsam weit entfernt schien von allem, was geschah. Mrs Collins ließ uns Ältere jeden Morgen Bericht über die Nachrichten erstatten, die die BBC am Abend zuvor gesendet hatte, wir sangen die Nationalhymne und sprachen ein Gebet für die Truppe. Eine knappe halbe Stunde für den Krieg, dann schloss sich unser normales Leben nahtlos an.
    Unser normales Leben: Für mich bestand es nun darin, mich nach meiner Hausarbeit bei den Stones mit Hazel und den anderen Mädchen am Dorfbrunnen zu treffen, um eigentlich gar nichts zu tun, außer zu reden und uns über die Jungen lustig zu machen, die

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