Liverpool Street
redeten, dass Onkel Matthew Amanda alleine in London zurückließ oder dass sie mir nichts davon sagte.
Wozu schrieb sie mir überhaupt, wenn sie mich die ganze Zeit nur belog? Denn Dinge zu verheimlichen, war auch gelogen, das musste sie doch wissen! Dabei wäre ich hundertprozentig auf ihrer Seite gewesen. Ich war so entrüstet über Onkel Matthew, dass ich in dieser Nacht kaum einschlafen konnte. Aber bis zum Morgen überwog die Wut auf Amanda und ich beschloss, ihr so lange nicht zu antworten, bis sie mir endlich die Wahrheit sagte.
Sie tat dies eine Woche später in heiterem Ton und schilderte ihren Kampf mit dem Vorführgerät, das, wie sie glaubte, ihre Todesangst vor anspruchsvollen technischen Errungenschaften wohl spüren müsse, denn es benähme sich bei ihr völlig anders als bei Walter! Onkel Matthew sei zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Kontinent, »jenem befremdlichen Ruf folgend, für den das durchschnittliche weibliche Ohr offenbar komplett taub ist«.
Es war dieser einzige bittere kleine Halbsatz in ihrem Brief, der meinen Ärger sofort vertrieb. Amanda ohne Gary und Onkel Matthew, ohne Millie, ihren Garten … Amanda in einem stillen, leer gewordenen Haus … das war so unvorstellbar, dass sie es gar nicht hätte beschreiben können. Und gerade deshalb wusste ich genau, wie sie sich fühlen musste. Sie musste sich fühlen wie ich, sobald ich anfing, über mein früheres Leben nachzudenken.
Für einige Tage nach dem Erhalt ihres Briefes verspürte ich wieder die Nähe, die mir in London so viel bedeutet hatte, und sehnte mich mit großer Heftigkeit zurück. Dann drängten andere Dinge in den Vordergrund: das sich einspielende Zusammenleben mit den Stones, die Schule, die mir mehr und mehr Spaß machte, der erste kleine Freundeskreis meines Lebens. Als der Herbst voranschritt, bekam ich Einladungen in fremde Häuser, lernte Hazels und Karens Gastfamilien kennen und durfte im Hound and Horn, dessen Besitzer die Howard-Zwillinge aufgenommen hatte, mit den anderen Tischtennis spielen. In der Weihnachtszeit kehrten weitere Kinder nach London zurück, da der deutsche Angriff ausblieb. Ich fragte nicht, ob ich mitdurfte, ich versuchte es nicht einmal. Ein knappes halbes Jahr nur war ich bei den Shepards gewesen, nun verblassten sie allmählich zur Erinnerung.
Mit meinen Eltern ging es mir ähnlich. Noch immer sah ich Papa bei seiner Verhaftung vor mir und vermochte ihn mir nicht in seinem weißen, blitzsauberen Sanatoriumsbett vorzustellen. Und wenn ich an meine Mutter dachte, dachte ich an Erdbeerfelder, als ob alle anderen, neueren Berichte von ihr einfach aufgehört hätten, mich zu erreichen.
Zu den drei Fächern, die Mrs Collins in Tail’s End unterrichtete – Englisch, Rechnen und Erdkunde – kam im Winter für uns Mädchen noch ein viertes hinzu, das innerhalb kürzester Zeit zur Sucht wurde: Handarbeit. Unermüdlich strickten wir erst Schals, dann mit wachsender Fertigkeit Socken und Fäustlinge für die Soldaten an der immer noch ruhigen Westfront, die zu Weihnachten mit persönlichen Grüßen verschickt wurden.
Zu unserer unermesslichen Begeisterung kamen einige Wochen später Grüße zurück und es dauerte nicht lange, bis jede von uns ihren eigenen Soldaten hatte. Meiner hieß Frank Duffy, war zweiundzwanzig Jahre alt und aus Cornwall und ich gab mir die größte Mühe, auf dem Foto, das ich ihm schickte, ernst und erwachsen auszusehen. An einer Wand im Klassenraum hängte Mrs Collins eine Weltkarte auf, damit wir verfolgen konnten, wo unsere Soldaten sich gerade aufhielten. Allerdings war Gary der Einzige, der sich bewegte: Das Fähnchen mit seinem Namen konnte ich im Atlantik zwischen den USA und Europa hin und her schieben, alle anderen drängten sich nach wie vor in Frankreich. In Finnland, das im November von den Russen angegriffen worden war, kannten wir niemanden.
Gary war erfreut, dass ausgerechnet sein Eintritt in die Royal Navy mir die Tür zu meinen Klassenkameraden geöffnet hatte. Er war im Gegensatz zu Walter kein großer Briefschreiber, aber suchte für seine kurzen Postkarten nur die schönsten Motive aus: weiße Häuser vor blauem Meer, exotische Blüten, Palmen, Vögel und Schiffe. Zu Chanukka schickte er mir eine Kette aus winzig kleinen, glatten weißen Muscheln. »Ich hoffe, du lernst weiter fleißig Hebräisch und vernachlässigst deine Gebete nicht!«, schrieb er dazu.
Diese Bemerkung versetzte meiner Freude über die Kette einen gewaltigen Dämpfer.
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