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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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erkennbar. Der Kies knirschte vor Kälte, als die Wellen leise dagegen anrollten. Plötzlich musste ich an meinen letzten Geburtstag denken, an dem ich den Vorsatz gefasst hatte, mir auf eigene Faust eine Pflegefamilie zu suchen. So gesehen waren die Shepards mein Geburtstagsgeschenk gewesen. Die meisten meiner anderen Pläne waren nicht aufgegangen – fast keiner, wenn ich genauer nachzählte! –, aber dieser Wunsch zumindest hatte sich auf schönste Weise erfüllt.
    Ob ich auch heute wieder einen Wunsch freihatte? Seltsamerweise wagte ich ihn nicht auszusprechen, während ich über das Meer in die Richtung schaute, in der die Niederlande liegen mussten. Irgendwo dort draußen stand in diesem Augenblick mein Vater und dachte an mich, wünschte sich dasselbe wie ich, und ich dachte nur: Jesus, du weißt es ja …
    Ich hatte noch nicht zu Ende gedacht, als es geschah. Es war, als stünde das Meer direkt vor mir, so nah, dass ich die Feuchtigkeit an seiner Oberfläche spüren konnte, es gab keinen Stacheldraht zwischen uns und ich sah meinen Vater auf der anderen Seite warten, eine schmale Gestalt in einem braunen Mantel, den ich nie zuvor an ihm gesehen hatte. Er schaute zu mir hinüber, ohne sich zu bewegen, ich sah seine umschatteten Augen und die tiefen Falten um seinen Mund, doch auch sein Lächeln, sein altes, liebevolles Lächeln.
    Ein entsetzlicher Schmerz durchfuhr mich, so furchtbar, dass ich ihn nicht länger als den einen Moment hätte ertragen können, bevor er zusammen mit dem Bild meines Vaters verschwand. Dann lag wieder die See vor mir, kalt und ruhig.
    Ich hatte keine Zeit, zu mir zu kommen. Schon überfiel mich die nächste verwirrende Erscheinung. Wie aus dem Nichts wurde ich gepackt und umgedreht, etwas Kaltes, Nasses klebte sich an meine Lippen und meine entsetzt aufgerissenen Augen starrten in ein nicht weniger panisches Augenpaar, das keine zwei Zentimeter von meinem entfernt war!
    Wesley und ich flogen auseinander, als wäre eine Bombe zwischen uns detoniert, er in heilloser Flucht zurück über den Hügel, ich rückwärts gegen die Stacheldrahtrolle. Bis ich die Fassung wiedergewonnen hatte und zu dem empörten Gebrüll imstande war: »Sag mal, spinnst du, du Idiot?!«, war er aller Wahrscheinlichkeit nach schon auf halbem Wege nach Tail’s End.
    Tränen schossen mir in die Augen. Ich rieb wie besessen mit dem Ärmel über meinen Mund, rieb und spuckte; es fehlte nicht viel und ich hätte meine Lippen mit Sand geschmirgelt. Dieser Volltrottel! Er hatte meinen Geburtstag ruiniert, den wertvollen Moment mit meinem Vater entheiligt; wenn er es wagen sollte, irgendjemandem hiervon zu erzählen, würde ich ihn umbringen!
    Beschämt und rachsüchtig stolperte ich nach Hause, die nächsten Tage völlig in Anspruch genommen von zwei schnell wechselnden Impulsen: ihn entweder mit Blicken zu durchbohren oder ihm gar nicht erst unter die Augen zu treten. Wesleys innere Stimme schien ihm das Gleiche zu raten. Dass er dabei ziemlich niedergeschlagen wirkte, schrieb ich weniger dem Umstand zu, dass ich seine Botschaft nicht gut aufgenommen, sondern dass er unser Leben so unnötig kompliziert hatte.
    Wie sehr, davon erfuhr er zum Glück allerdings nie.
    »Aber was hat er denn nun gesagt? «, verfolgte mich Hazel für den Rest der Woche, bis ich ihr unter Abnahme eines Schweigegelübdes zähneknirschend gestand, dass Wesley gar nichts gesagt, sondern nur den Versuch unternommen hatte, mich zu küssen.
    Meine eigenen Gefühle über diese Tat spiegelten sich für Augenblicke in äußerst befriedigender Weise in Hazels schockiertem Gesicht, dann schlug sie die Hände vor den Mund und flüsterte aus tiefster Seele: »Versucht? Nur versucht? Gott sei Dank!«
    Ich starrte sie an. Ich hatte sie in die äußerste Ecke des Friedhofs geführt, um ihr von Wesleys Attacke zu erzählen, und klappernde Gerippe, die sich aus den Gräbern erhoben, hätten keine unheimlichere Wirkung haben können als Hazels Worte. »W-w-wieso?«, stotterte ich.
    »Ja, weißt du denn nicht …? Mit Küssen fängt alles an, davon kann man ein Baby bekommen!«
    Ich hörte mich schlucken.
    »Bist du sicher, dass Wesley es nur versucht hat?«, drängte Hazel.
    »Ja, natürlich, es waren nur zwei Sekunden und ich hab mir gleich den Mund abgewischt!«
    »Hat er irgendetwas in dich hineingelegt? «
    »Nein, mit Sicherheit nicht!« Langsam geriet ich in Panik. »Ich hab sofort ausgespuckt und da war nichts.«
    Hazels Augen waren groß wie

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