Liverpool Street
ihr eigenes künftiges Schicksal nicht mehr unabhängig von meinem betrachten konnten! Ich bekam reichlich zu essen, durfte meine Matratze ins größere Zimmer von Pearl und Herbert legen und es war kein Problem, nachmittags freizubekommen, sobald die Arbeit getan war.
Manchmal kam sogar eine Unterhaltung zustande. »Wie geht es deinem Bruder bei der Navy?«, fragte Mr Stone.
»Er fährt jetzt in einem Begleitkonvoi der Handelsmarine und sorgt dafür, dass die deutschen U-Boote unsere Versorgungsschiffe nicht erwischen«, erwiderte ich stolz. »Ansonsten haben sie bisher ja nichts gegen uns unternommen. Zwei Monate Krieg und noch kein einziger Angriff auf London! Drei Kinder aus Finchley sind schon wieder bei ihren Familien.«
Mr Stone schüttelte den Kopf. »Ein komischer Krieg ist das! Die Briten unter französischem Kommando, unglaublich, und alle sitzen geduldig hinter der Maginot-Linie und sehen den Deutschen dabei zu, wie sie ihre Befestigungsanlagen bauen.«
In der Tat: Inspirierend war der »Sitzkrieg« an der Grenze zu Frankreich nicht. »Nehmt mir wenigstens die Handfesseln ab, damit ich Briefe schreiben kann!«, verlangte ich nach einigen endlosen Nachmittagen im Waldversteck. »Die Deutschen kommen heute nicht mehr.«
Meine Bewacher waren entrüstet. »Spinnst du? Spione schreiben in Gefangenschaft keine Briefe, das ist ja was ganz Neues!«
»Wieso muss immer ich der Spion sein? Ich will nicht nur gefesselt herumhocken! Wenn das so weitergeht, mache ich nicht mehr mit!«
»Na schön. Wir nehmen dir die Handfesseln ab. Hast du Briefpapier dabei?«
Nur wenn Wesley Howard, einer der beiden Bandenchefs mich bewachte, hatte ich keinerlei Vergünstigungen zu erwarten. Der sommersprossige, henkelohrige Wesley legte mir nicht nur Hand-, sondern auch Fußfesseln an, unterzog mich äußerst langwierigen Verhören und zwang mich dabei, den Rauch einer Zigarette einzuatmen – wenn auch nur ein oder zwei Atemzüge, denn Wesley besaß nur zwei Zigaretten. »Du hast gesagt, keine Quälereien!«, protestierte ich.
»Sei ruhig oder sprich Deutsch!«, herrschte er mich an.
Walter amüsierte sich königlich, dass er Post aus dem Untergrund bekam, wie er es nannte, und revanchierte sich mit lebhaften Schilderungen seiner Versuche, nach Anbruch der Dunkelheit nach Hause zu finden. In London herrschte Blackout, Straßenlaternen blieben schwarz, Haushalte waren zur Anbringung von Verdunkelungsvorhängen verpflichtet. Zur Verwirrung der Deutschen im Fall einer Invasion waren außerdem alle Orts- und Straßenschilder entfernt worden, eine Maßnahme, die bisher allerdings nur unter den Einheimischen für Verzweiflung sorgte. Ich stellte mir vor, wie sie orientierungslos durch ihre dunklen Stadtteile irrten und auf dem Weg unbeleuchteten Autos zum Opfer fielen. »Kommt dann noch der Nebel hinzu«, schrieb Walter, »kauert man sich am besten in eine Hausecke und verständigt sich durch Rufzeichen, sobald man Schritte hört.«
Walters erstaunlichste Nachricht erhielt ich jedoch im November.
… Wie du weißt, geht Dr. Shepard mit seinem mobilen Kino zur Truppenunterhaltung nach Frankreich – aber haben sie dir auch erzählt, wer dann in ihrem heimischen Kino die Stellung halten wird? Niemand anderes als meine Wenigkeit! Das Angebot war so gut, dass mein Vater gar nicht Nein sagen konnte. Sie mussten mir erst eine Bescheinigung ausstellen, dass ich ein »freundlicher Ausländer« bin, und nun werde ich im Büro hinter dem Kassenraum schlafen und es tagsüber mit Mrs Shepard teilen. Offiziell soll ich ihr zur Hand gehen, aber erzähl es nicht weiter – ich glaube, es wird eher umgekehrt sein, ihre Begabung für Filmvorführungen ist gleich null! Falls sie sich beim Lernen nicht extradumm anstellt … die beiden sprechen ja kaum noch miteinander, so böse ist sie auf ihn. Was ist bloß los mit euch Frauen? Es ist doch klar, dass wir Männer den Krieg nicht bloß am Radio erleben wollen, und da Dr. Shepard zu alt ist, Soldat zu werden, ist das seine einzige Gelegenheit.
Ich musste den Absatz mehrmals lesen, bis seine Worte bei mir ankamen. »Wie du weißt«, hatte Walter geschrieben, aber so war es nicht – dass Onkel Matthew nach Frankreich ging, hörte ich zum ersten Mal, obwohl ich jede Woche Post von Amanda bekam! Mit keinem Wort hatte sie es erwähnt, geschweige denn von ihrem Streit erzählt und ich konnte nicht sagen, was ich schwerer zu glauben fand: dass die Shepards nicht mehr miteinander
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