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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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bedeuten konnte: Der es verursacht hatte, verharrte mitten in der Bewegung. Jemand wartete, dass ich mich zuerst rührte.
    Ich hörte auf zu atmen. Mein Körper wurde von etwas gehalten, mit dem ich nichts mehr zu tun hatte. Ey-Dolfs Nackenhaare erhoben sich wie eine struppige graue Bürste und ich konnte seine Eckzähne sehen, die sich entblößten, ohne einen Laut von sich zu geben.
    Die Invasion!
    Ein Zweig knackte wie ein Pistolenschuss. »Lauf, Ey-Dolf!«, schrie ich und ließ seine Leine los. Ich stürzte mich vornüber den Hügel hinunter, schlitterte, rutschte, rannte. Zweige schlugen mir entgegen, ich stieß gegen etwas Großes, Weiches, Brüllendes, sah das braungelbe Laub auf mich zukommen, versuchte zu krabbeln, wurde auf den Rücken geworfen.
    »Pass doch auf, du Idiotin!«, schrie Karen, die ich mit mir zu Boden gerissen hatte.
    Ich schlug die Augen auf und erkannte, dass sie alle da waren: die Fünf, mit denen ich verabredet war, und ein halbes Dutzend andere. Carls Bande und die von Lesley und Wesley, den Howard-Zwillingen, umstanden mich wie ein Stück Wild, das sie gerade erlegt hatten.
    »Los, aufstehen!«, knurrte Wesley und versetzte mir einen leichten Fußtritt. Ich rappelte mich hastig auf. »He!«, mischte sich Carl ein. »Sie gehört uns! Wir haben sie mitgebracht!«
    »Allerdings, du Blödmann. Von wegen, Bruder bei der Navy! Das kann ein Foto von irgendwem sein. Hast du gehört, wie sie ihren Hund genannt hat?«
    »Wie denn?« Misstrauisch wanderten Blicke zwischen Ey-Dolf und mir hin und her und ich machte gehorsam den Mund auf, um zu sagen: »Na, Ey-Dolf …!«
    Da plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Nach über vier Wochen bei den Stones kapierte ich endlich, wie der arme Hund hieß!
    »Nur Nazis nennen ihre Hunde Adolf«, behauptete Wesley.
    »Quatsch«, sagte ich automatisch. »Die dürfen das gar nicht. Was glaubst du, was passiert, wenn sie vor allen Leuten Sitz, Adolf!, Platz, Adolf! und Hau ab, Adolf! rufen!«
    Einige kicherten. »Das macht nur den Feinden der Nazis Spaß«, fuhr ich ermutigt fort, während mir gleichzeitig ganz andere Fragen durch den Kopf schossen. Was der Sinn dieser merkwürdigen Zusammenkunft war. Was Carl damit meinte, dass ich ihnen gehörte. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, aber in meiner Magengegend spürte ich erste Anzeichen dafür, dass von meiner Kühnheit nicht viel übrig bleiben würde, wenn ich noch lange hier herumstand.
    »Sag mal was auf Deutsch«, kommandierte Wesleys Schwester Lesley.
    »Wo, bitte, geht’s zum Strand?«, erwiderte ich höflich.
    »Nein, richtiges Deutsch! Laut! Mach schon!«
    Ich dachte einen Augenblick nach, dann brüllte ich aus Leibeskräften: »Ihr blöden Schwachköpfe mit eurem vergammelten ollen Bunker! Mädchen und Hunde erschrecken, das ist alles, was ihr könnt!«
    Sie waren erfreut. »Was heißt das?«, fragte Lesley begierig.
    »Das heißt, alle Mann sammeln zum Angriff auf den Bunker«, antwortete ich und wollte daraufhin noch dringender nach Hause, denn Wesley, Lesley und Carl verständigten sich per Handzeichen, einige Schritte beiseitezugehen und miteinander zu raunen.
    »Ich glaube, ich gehe jetzt besser«, verkündete ich so beiläufig wie möglich und bückte mich nach Ey-Dolfs Leine.
    Ein Stiefel stellte sich auf die Leine. Langsam wanderte mein Blick an Wesleys Bein hinauf. »Ab heute«, sagte er, »bist du deutscher Spion. Mal für uns, mal für die anderen. Wenn du gefangen wirst, versuchen deine Leute dich zu befreien, bevor der Feind die Geheimnisse aus dir herausgepresst hat. Alles klar?«
    »Gefangen? Herausgepresst? Äh … ich glaube, ich muss jetzt wirklich gehen, die Stones sind bestimmt schon unterwegs, um mich zu …«
    »Moment.« Eine Hand legte sich um meinen Arm. »Kein Schlagen, kein Treten, kein Quälen. Und deine Leute dürfen nicht nach Hause, ehe sie dich befreit haben.«
    Was hätte ich tun sollen? Sie waren zu zwölft, sie klopften mir freundschaftlich auf den Rücken, sie begannen schon zu streiten, welche der beiden Banden mich am nächsten Tag als Erste fangen und fesseln durfte! Ich tröstete mich damit, dass ein deutscher Spion zu sein immer noch besser war, als gar keine Freunde zu haben.
    Was die Stones und mich verband, war mehr als ein Waffenstillstand, weniger als ein Frieden, aber doch eine Art Abkommen. Bei aller Arbeit, die sie nach wie vor von mir erwarteten, waren sie nun sehr darauf bedacht, mich anständig zu behandeln – als ob sie

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