Liverpool Street
Furcht und Verlassenheit noch verstärkte.
Vielleicht hätte ich es einfach versuchen sollen. Vielleicht tat auch Mamu längst leid, wie sie auf meinen Besuch bei Seydenstickers reagiert hatte. Vielleicht hätte sie sogar das eine oder andere zurückgenommen, was seitdem zwischen uns stand wie eine Wand.
Ihre Wut, ihre Vorwürfe, mit denen sie mich noch im Auto überschüttete, hatten mich getroffen wie ein Keulenschlag. »Bist du wahnsinnig, Ziska? Diese Leute und ihresgleichen sind schuld daran, dass es ständig heißt: ›dreckige Juden‹! Die haben uns doch da erst reingeritten mit ihren schwarzen Mänteln und ihren Bärten und dem ganzen scheußlichen Mittelalter, das sie hier eingeschleppt haben! Wie kannst du mich zwingen, da hineinzugehen?«
Mir stand der Mund offen. Seydenstickers sollten schuld daran sein, dass wir vor den Deutschen Angst haben mussten? Ich kannte die Familie erst seit ein paar Stunden, aber Mamus Behauptung erschien mir unfassbar, geradezu erschreckend falsch und ungerecht.
Deshalb also hatte sie ihnen kaum gedankt und auch nicht geantwortet, als Frau Seydensticker uns für Freitagabend zum Schabbes eingeladen hatte!
An meinem zerschundenen, verpflasterten Arm zerrte meine Mutter mich grob die Treppe hinauf. Ich wehrte mich, schlug nach ihr, biss ihr in die Hand. Unsere Kämpfe waren legendär. Ich riss mich los und polterte wie von Furien gehetzt vor ihr her.
»Ich hole die Polizei!«, keifte die Bergmann durchs Treppenhaus. »Verdammtes Judenpack!«
»Papa!«, heulte ich oben in der Wohnung und fiel ihm um den Hals.
»Ziska, um Gottes willen!«, stieß er hervor.
Meine Mutter war völlig außer sich. Sie stürzte ins Bad und drehte den Wasserhahn auf, dann kam sie zurückgerannt und fing an, mir die Kleider vom Leib zu reißen. Ich kreischte aus voller Kehle. »Margot, was soll das?«, rief Papa und versuchte sie zurückzudrängen. »Das Kind muss zum Arzt!«
»Nicht bevor ich den ganzen Dreck von ihr abgewaschen habe! Flöhe und Läuse womöglich! Weißt du, wo ich sie aufgelesen habe? Sag’s ihm, Ziska!«
»Bei Ruben Seydensticker!«, schluchzte ich. »Richard hat mich verprügelt und Ruben hat mir geholfen.«
»Sind das Ostjuden?«, fragte Papa ruhig.
»Das hättest du mal sehen sollen.« Mamu versuchte an meinen um sich schlagenden Händen vorbeizugreifen. »Acht Mann in einem Raum, Hühner auf der Treppe und meine Ziska auf dem Fußboden mit einem splitternackten Baby auf dem Arm! Mit diesen Leuten haben wir nichts zu tun, verstanden? Wenn ich dich noch einmal dort erwische!«
Etwas explodierte in meinem Kopf. »Du bist so gemein! Du … du redest ja wie die Deutschen!«, schleuderte ich ihr entgegen.
Mamu taumelte einen Schritt zurück. Ihr wutentbranntes Gesicht verzog sich zum Weinen, sie holte aus und schlug mir mit voller Wucht ins Gesicht. Dann stürzte sie ins Schlafzimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
»Das sind Juden, wie wir«, sagte ich zitternd zu Papa. Den Schlag hatte ich gar nicht gespürt, aber wenn ich an Mamus Gesicht dachte, wurde mir kalt.
»Du hast Recht«, antwortete Papa bedächtig. »In den Augen der Deutschen ist da kein Unterschied. Für uns … gibt es solche und solche. Findest du nicht auch, dass man sich ein wenig anpassen sollte an die Gepflogenheiten des Landes, in dem man sich entschlossen hat zu leben? Dass man nicht ständig darauf hinweisen sollte, dass man anders ist?«
»Ich finde, wir sollten zusammenhalten«, murmelte ich.
Papa seufzte. »Es ist schwer zu erklären«, gab er zu. »Willst du nicht doch etwas Sauberes anziehen, bevor wir zum Arzt fahren?«
Meine Schrammen heilten schnell, die Unterlippe behielt nur einen feinen Riss zurück. Der Riss in meinem Inneren ging tiefer. Meine Mutter war, obwohl wir uns häufig stritten, die Autorität in meinem Leben: groß, stark, stolz, ein Leuchtturm, zu dem Papa und ich aufschauten. Gewiss, sie war unberechenbar, launisch und bisweilen ungerecht, aber selbst das nahm ich mit Respekt zur Kenntnis, da es ihr nur noch größere Aufmerksamkeit verschaffte.
Dass Mamu Fehler machte, wusste ich; es tat meiner Bewunderung keinen Abbruch. Dass sie in einem größeren Zusammenhang fehlbar war, war neu, tat weh, umso mehr, als sie mit keinem Wort auf unsere Auseinandersetzung zu sprechen kam, obwohl sie merken musste, wie verstört ich war. Meine Mutter wartete darauf, dass ich, das Kind, den Anfang machte. Sie besaß nicht die Gabe, mir auch nur einen Schritt
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