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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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aber besser, als noch einmal in diese Augen zu sehen …
    Ich sprang und spürte den Aufprall nicht, hörte nicht, wie Äste krachten und Zweige unter meinen Fingern brachen. Meine nackten Füße waren wie Krallen, die den Stamm hinaufliefen. Hinauf, nicht hinunter. Wer hat mir das gesagt? Als der Wolf aus dem Fenster schaute, war ich zwei Meter über ihm, über ihm und dem Licht, das aus meinem Zimmer in den Baum fiel. Er beugte sich tief übers Fensterbrett und spähte in den dunklen Hof, dann schüttelte er langsam, wie bedauernd den Kopf und schloss das Fenster. Er zog sogar die Gardine zu.
    Draußen. Kalte, feuchte Luft. Irgendwo Rufen, Lachen, ein Geklirr; über den Dächern zur Stadt hin leuchtete es glutrot und golden, leuchtete und zuckte wie ein freigelassener Drache. Der Stamm der Birke, der hier oben schon dünn und biegsam war, schaukelte mich sacht. Ich würde nie mehr heruntersteigen.
    Die Bewegung hinter dem Vorhang war so leicht, dass ich sie fast übersehen hätte. Ich hob das Gesicht, das ich an den Stamm gepresst hatte, und starrte mit neuem Schrecken zwischen den Ästen hindurch auf die kleine weiße Gestalt am Fenster im vierten Stock. Ihr Zimmer lag direkt über meinem, wie hatte ich das vergessen können? Früher hatten wir Seilpost gespielt und uns in einem Körbchen kleine Botschaften geschickt. Dass sie mich in meinem luftigen Versteck entdeckt hatte, stand außer Frage: In meinem hellen Schlafanzug hockte ich keine zwei Meter von ihr entfernt, man brauchte mich nur vom Baum zu pflücken.
    In dieser Nacht tat ich eine Menge Dinge, ohne nachzudenken. Kaum hatte ich Christine erkannt, war ich auch schon auf der Flucht nach unten. Ich hielt nicht eine Sekunde im Klettern inne, obwohl jeder Tritt ins Geäst sich anfühlte, als müssten meine nackten Fußsohlen schier zerreißen. Obwohl ich mich Meter für Meter von meinen Eltern entfernte. Ich konnte nicht sagen, was sich inzwischen in unserer Wohnung abspielte, aber solange ich im Baum neben meinem Zimmer gesessen hatte, hatte ich das Gefühl gehabt, in ihrer Nähe zu sein. Ich kam am Boden an und wusste, dass ich alleine übrig war.
    Es war unerträglich. Mein erster Impuls war, geradewegs die Treppe hinaufzulaufen, an unserer Tür zu läuten und mich ihnen auszuliefern. Ihr könnt mit mir machen, was ihr wollt, aber lasst mich bei meinen Eltern!
    Doch dann geschah etwas sehr Merkwürdiges. Es war, als bestünde ich plötzlich aus zwei Personen. Ein kleiner Teil von mir gehörte noch der alten Ziska, die zurückgelaufen wäre, doch er hatte keine Gewalt mehr über mich. Die neue Ziska lief geduckt durch den Hof, prüfte den Ausgang durch die Vordertür, sah die kleine Ansammlung von Menschen und Fahrzeugen auf der Straße und huschte zurück, um die Mauer zum Nebenhaus zu überklettern. Sie zerrte eine der Mülltonnen aus ihrem Verschlag, schlüpfte in die Nische, die sich dahinter befand, kroch hinter den Mülltonnen entlang in die äußerste Ecke und kauerte sich an die Wand.
    Von der Straße direkt vor unserem Haus drang bald kein einziger Laut mehr zu mir. Offenbar waren sie in ihre Autos gestiegen und abgefahren. Ganz in der Ferne meinte ich noch ein Brausen zu hören, vielleicht das Feuer, das ich am Himmel gesehen hatte. Ob es wirklich ein Feuer gewesen war? Hätte ich dann nicht Sirenen hören müssen?
    Ein heißer Schwall von Wut und Rachdurst schoss bis in meine Fingerspitzen: Hätte ich doch ein Gewehr gehabt …! Meine rechte Hand zuckte, als betätigte sie den Abzug.
    Aber zugleich stürzten auch schon die Tränen aus meinen Augen, denn mir war klar, wer ich in Wirklichkeit war: ein lächerliches Mädchen im Schlafanzug, das hinter Mülltonnen hockte, das seine Eltern im Stich gelassen hatte, das feige geflohen war, um sein eigenes Leben zu retten.
    Schluchzend umschlang ich mit beiden Armen meine Knie und vergrub mein Gesicht. Warum musste ausgerechnet ich jüdisch sein? Es war ungerecht! Ich hasste es! Besser wäre gewesen, nie geboren zu sein!
    »Ziska? Ziska, bist du da drin?«
    Ich fuhr hoch. Der muffige Geruch der Mülltonnen drang mir sofort in die Nase, Tageslicht fiel durch sämtliche Ritzen des Verschlags und offenbarte das ganze Ausmaß meiner Schande. Weggelaufen, und dann auch noch eingeschlafen!
    Ein Schatten erschien in dem Spalt, der hinter den Mülltonnen in meine Nische führte. Zuerst sah ich die Schultasche, die hineingeschoben wurde, dann – auf allen vieren – eine bekannte Gestalt. »Ich muss

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