Liverpool Street
entgegenzukommen. Und ich, die ich mir nichts sehnlicher wünschte als eine Versöhnung mit ihr, war zu verwirrt von dem, was geschehen war, um die passenden Worte zu finden.
Der Zeitpunkt, zu dem wir über den Vorfall hätten reden können, verstrich. Meine Welt, wie ich sie bisher gekannt hatte, ging zum Ende des Jahres in mehr als einer Hinsicht in die Brüche.
Selbst mit Bekka, meiner besten Freundin, stimmte etwas nicht. Sie sprach kein Englisch mehr mit mir, sie hatte nicht einmal Lust, den Survival Plan unter ihrer Schuhsohle hervorzuholen und unser Versteck an der Schlachterei durchzustreichen. Ich unternahm nur einen einzigen Versuch, mit ihr über das zu reden, was mir seit der Begegnung mit Seydenstickers und Mamus heftiger Reaktion darauf durch den Kopf ging.
»Was bedeutet eigentlich jüdisch?«, fragte ich. »In der Bibel sind die Juden ein Volk, aber das ist doch viel zu lange her. Seit Tausenden von Jahren haben sie nicht mal mehr ein eigenes Land, wohnen überall …«
»Das hat doch damit nichts zu tun. Judentum ist eine Religion«, erwiderte Bekka mürrisch und stocherte mit einem Stöckchen im Boden unseres Lieblingsverstecks. Verbissen hackte sie in der Erde herum, bis das Stöckchen durchbrach und sie es ungeduldig von sich warf.
»Aber wir sind evangelisch. Man kann doch nicht gleichzeitig zwei Religionen haben!«, wandte ich ein.
»Es ist eben auch eine Rasse. Ist doch egal«, brummte Bekka.
»Ist es nicht. Rasse, so ein Quatsch! Du bist blonder als alle arischen Mädchen, die ich kenne. Also, eine Rasse ist es bestimmt nicht. Glaubst du, es ist vielleicht ein Schicksal ?«
»Ziska, ich freue mich für dich, dass du keine anderen Sorgen hast!«, sagte sie mit blitzenden Augen. »Was mich betrifft, so muss ich jetzt jedenfalls nach Hause.«
Sie krabbelte auf allen vieren aus unserer Höhle. »Was ist denn, Bekka? Bleib hier, was hast du denn?«, rief ich ihr nach.
»Wir sehen uns morgen in der Schule«, rief sie von draußen und war verschwunden.
Ich blieb sitzen und umschlang mit beiden Armen meine Knie. Die herbstliche Kühle war nicht das Einzige, was mich frieren ließ.
Ich konnte nicht sagen, ob meine Eltern vom Verschwinden der Seydenstickers wussten; ich brachte es nicht fertig, sie zu fragen. Der Oktober ging mit diesem vernichtenden Schlag zu Ende, der November kam kühl und regnerisch und war, gemessen an allem, was sich im Stillen für mich verändert hatte, von bemerkenswerter Alltäglichkeit. Ich ging brav zur Schule, ging Richard Graditz, den ich nur ein einziges Mal von Weitem sah, aus dem Weg, und unsere Sommerunternehmungen kamen wie immer nach den ersten Frostnächten zu einem Ende. Von unserem Versteck auf dem Friedhof fiel das Laub, wurde fortgekehrt. Die Spur des Obdachlosen, der im letzten Winter darin gehaust hatte, hatte sich längst verloren, nun waren auch Bekka und ich dort verschwunden.
Ich erinnere mich, dass mein Vater noch jeden Morgen seinen Hut aufsetzte, ein Butterbrot in die Aktentasche steckte und sich auf den Weg in die Kanzlei machte, obwohl er sich nun nicht mehr Rechtsanwalt nannte, sondern Konsulent, und nur noch jüdische Klienten beriet. Die meisten werden in verzweifelten Belangen zu ihm gekommen sein: Auswanderungsanträge, die abgelehnt wurden oder gänzlich ohne Antwort blieben, Wohnungen, die man ihnen ohne Begründung kündigte, Enteignung ihrer Geschäfte und ihrer Vermögensanteile an Firmen. »Entjudung« nannte sich das. Mein Vater wird sich alles angehört haben, wird versprochen haben, sein Möglichstes zu tun, wird immer seltener mit den Worten getröstet haben, dass bessere Zeiten kämen. Man hörte von Selbstmorden, erstmals im Bekanntenkreis. Namen, die nur noch geflüstert wurden.
An jenem Abend, einem Mittwoch, hatte eine merkwürdige Spannung in der Luft gelegen. Der Botschaftssekretär in Paris war zwei Tage zuvor den Folgen eines Attentats erlegen – erschossen von einem Siebzehnjährigen, der sich ohne Widerstand am Tatort hatte festnehmen lassen, nachdem er Ohrenzeugen zufolge ausgerufen hatte: »Im Namen der verfolgten Juden!« Meine Eltern klebten voller Sorge vor dem Radio und ich ging früh zu Bett, eingehüllt in meinen eigenen Kummer. Mamu und ich sprachen immer noch nur das Nötigste miteinander.
Es hätte ein böser Traum sein können. Tatsächlich glaubte ich daran, während ich langsam vom Schlafen zum Wachen hinüberglitt. Poltern, Stiefeltritte, laute Stimmen. Es war dunkel um mich, gleich würde
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