Liverpool Street
um den Kopf ein Tuch, das ihr bis in den Rücken fiel. Wie die Frauen in meiner Kinderbibel – selbst der traurige, mitfühlende Gesichtsausdruck stimmte! Verlegen fasste sie an ihr Tuch, als sie merkte, wie ich sie anstarrte, und ich wurde knallrot, beschämt von meinem schlechten Benehmen und, ja, auch von der Armut um mich herum.
Denn der Raum, in dem ich mich befand, schien nicht nur Küche, sondern zugleich Schlaf- und Wohnstube der gesamten Familie zu sein. Die Kochstelle, der Tisch mit Bank und Stühlen sowie ein großer Schrank brauchten fast den ganzen Platz, trotzdem stapelten sich noch zahlreiche Matratzen an der Wand. Obenauf lag in einem Berg von Kissen und Decken der friedlichste Säugling, den ich je gesehen hatte. Wir hatten durch drei Hinterhöfe gehen müssen, an unzähligen kleinen Fenstern und Wäscheleinen vorbei, um zu Seydenstickers vorzudringen. Unter der Freitreppe hatte jemand auf dem Plumpsklo gesessen, bei offener Tür!
Rubens kleine Schwester brachte mir schüchtern etwas Obst. »Ich heiße Chaja«, flüsterte sie und ging zwei Schritte rückwärts, mich unverwandt bestaunend.
»Hallo, Chaja«, murmelte ich und schloss die Augen, den Apfel in der Hand.
Es wurde still. Nur ein paar hässliche Bilder zuckten noch durch meine Erinnerung. Eine zusammengerollte Wolldecke kratzte in meinem Nacken, eine Wanduhr tickte. Ich versuchte, an den frühen Morgen zu denken, als ich aufgestanden war und noch keine Ahnung gehabt hatte, was an diesem Tag auf mich zukommen würde. So weit lag das noch gar nicht zurück.
Jemand hatte sich neben mich gesetzt. Ich nahm den nassen Lappen ab, den ich mir übers ganze Gesicht gelegt hatte, und entdeckte Ruben, der es sich auf einem der Stühle bequem gemacht hatte. »Lass ihn lieber da liegen«, sagte er. »Du siehst ziemlich übel aus. Aber Richard Graditz auch, falls dir das ein Trost ist. Ich glaube, seine Nase ist gebrochen.«
Er war auf dem Nachhauseweg buchstäblich mit den drei Jungen zusammengestoßen, die, ohne nach rechts und links zu sehen, aus der Einfahrt geschossen kamen. Außer dem üblichen »Hau ab, Jude!« wurde er nicht behelligt, trotzdem hatte er vorsichtshalber einige Minuten gewartet, bevor er um die Ecke in den Hof linste.
Ich erzählte ihm, was passiert war. Da meine Lippe bereits deutlich abgeschwollen war, konnte ich die Hetzjagd durch den Keller sogar ein wenig zu meinen Gunsten ausschmücken, indem ich August und Eberhard in ein Loch fallen ließ, in das ich sie angeblich gelockt hatte. Je länger ich erzählte, desto munterer wurde ich. Ich war davongekommen. Sie hatten mich nur erwischt, weil sie zu dritt gewesen waren. Mit Bekka zusammen wäre es anders ausgegangen!
»Du bist total verrückt, Ziska«, sagte Ruben, als hätte ich meinen letzten Gedanken laut ausgesprochen. »Gegen die kann man nicht gewinnen. Was, wenn Richards Nase wirklich gebrochen ist? Wenn die Eltern euch anzeigen?«
»Das machen die nicht. Die kenne ich. Die hauen ihm höchstens eine runter, wenn sie hören, dass er auf ein Mädchen losgegangen ist.« Ich legte den feuchten Lappen neben mich auf den Tisch und setzte mich vorsichtig auf. »Die Graditzens sind gar nicht so. Richard ist viel schlimmer als seine Eltern.«
»Möge es ein böses Ende mit ihm nehmen«, antwortete Ruben feierlich.
Halb neugierig, halb verlegen sah ich ihn an. Ruben sagte bisweilen Dinge, auf die es in meinem Wortschatz überhaupt keine Antwort gab. Er war der Einzige aus seiner Familie, den sie zur Schule schickten, wohl weil er so klug war, dass sie es zu Hause nicht mit ihm aushielten.
»Was ist das für eine Sprache, die deine Eltern sprechen?«, wollte ich wissen. »Ist es Holländisch? Geht ihr nach Holland? Wir haben seit einer Woche auch einen Ausreiseantrag laufen, nach Shanghai! Aber wir haben mit Chinesisch noch gar nicht angefangen.«
Ruben schüttelte ungläubig den Kopf. »Mann, du hast wirklich keine Ahnung«, sagte er erschüttert. »Du musst doch schon mal Jiddisch gehört haben.«
»Jiddisch?«, wiederholte ich. »Wo soll ich das gehört haben? In meiner Familie kann es keiner.«
»Aber das ist unsere Sprache, Ziska, schon seit Jahrhunderten. Deine Vorfahren haben mit Sicherheit auch mal einen jiddischen Dialekt gesprochen.«
»Woher willst du das wissen?«
»Mit Sicherheit«, wiederholte Ruben. »Jiddisch ist eine Mischung aus Hebräisch und altem Deutsch. In dieser Sprache haben sich Juden in ganz Europa verständigt.«
»Ist das wahr? Dann
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