Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
Vom Netzwerk:
ich einen Schluck Wasser trinken, mich im Bett umdrehen und wieder eindösen. Diese kleinen Sekundenträume waren nichts Besonderes, kein Grund zur Beunruhigung; ich wusste, dass ich mich am Morgen an nichts würde erinnern können.
    Ich griff nach dem Wasserglas auf dem Nachttisch, als plötzlich Licht unter dem Türspalt hindurchfiel. Ihm folgte ein Krachen, ein Bersten und Poltern, das wie ein heißer, heller Blitz in mich fuhr. Sofort war mir klar, dass jemand die Wohnungstür eingetreten hatte.
    »WOHNT HIER DER JUDE MANGOLD?«
    Ein hässliches, heiseres Gebell. Ich spürte meine Lippen am Wasserglas, den bleischweren Arm, der es hielt, die Feuchtigkeit, die mein Kinn entlang in den Schlafanzugkragen rann. Ich war nicht imstande zu schlucken.
    Eine andere Stimme antwortete, ruhig und leise. »Wer will das wissen?«
    »AUCH NOCH FRECH WERDEN, DER JUDE!«
    Wieder die heisere Stimme, gefolgt von neuerlichem Krachen und Klirren, in dem ich wiedererkannte, was gerade zu Bruch gegangen war: das Glastischchen mit dem Telefon, das im Eingang gestanden hatte.
    Papa! Mir fiel das Glas aus der Hand, Wasser schwappte über meine Decke, den Schlafanzug. Denken konnte ich nicht, aber mein ganzer Körper katapultierte sich nach vorn, strampelte die Decke zu Boden, sprang aus dem Bett und flog zur Tür. Papapapapapa! Meine Beine wollten nachgeben, ich lehnte mich an die Wand und drehte mit steifen Fingern die Türklinke. Ich hörte mein hastiges, flaches Atmen.
    Mein Vater stand mit dem Rücken zu mir, er trug seinen Bademantel und ich sah schneeweiße Füße in Pantoffeln.
    »WIE WÄR’S MIT EINER VERBEUGUNG VOR EINEM DEUTSCHEN OFFIZIER?«
    Die Kerle waren keine Offiziere, das sah selbst ich. Sie waren ganz gewöhnliche Nazis in ihren kackbraunen Uniformen, aber mein Vater muss nach kurzem Zögern beschlossen haben, dass es einerlei war. Er nahm Haltung an und salutierte.
    »NIMMST DU WOHL DIE HAND RUNTER, JUDE? DU SAU BIST DOCH KEIN SOLDAT! VERBEUGUNG HAB ICH GESAGT!«
    »Mein Mann ist Offizier und Teilnehmer des Weltkriegs. Er ist Träger des Eisernen Kreuzes und des Frontkämpferabzeichens«, ertönte die Stimme meiner Mutter, die lediglich ein ganz kleines Zittern verriet. Erst jetzt sah ich Mamu, die, eingerahmt von zwei Männern mit Schlagstöcken, im Nachthemd in der Schlafzimmertür stand.
    »HALT’S MAUL, SCHLAMPE! WER HAT DICH GEFRAGT?«
    Mein Vater wippte ganz leicht auf seinen Zehenspitzen, dann ließ er ruckartig den Oberkörper nach vorne fallen.
    »TIEFER, DU SAU! MUSS ICH DIR ERST ZEIGEN, WIE EINE ORDENTLICHE VERBEUGUNG AUSSIEHT?«
    Der Nazi, der für das Gebrüll verantwortlich war, tat einen Schritt auf Papa zu, drückte ihn brutal nach unten und rammte ihm gleichzeitig das Knie ins Gesicht. Es gab ein Geräusch, wie wenn man auf eine morsche Diele tritt. Papa sank stumm vornüber zu Boden und presste eine Hand vor den Mund, durch seine Finger tropfte Blut.
    »AUFSTEHEN! MITKOMMEN!«
    »Nein, bitte! Franz, Franz!«
    Mamu stürzte ein, zwei Schritte auf Papa zu, weiter kam sie nicht. Einer der beiden Männer, die neben ihr gestanden hatten, hielt ihren Arm fest, bog ihn brutal nach hinten, dass sie aufschrie, und schleuderte sie gegen den Türrahmen. Er tat dies ohne irgendeine Regung, mit einem leichten, nachlässigen Schwung, so rasch und nebenher, wie man im Sommer eine Mücke auf dem Arm totschlägt.
    Meiner Kehle entrang sich ein Keuchen, mehr nicht. Kein Mensch wäre imstande gewesen, es zu hören. Doch mit der geschärften Wachsamkeit des Bluthundes hob der Mann, der Papa getreten hatte, den Kopf und unsere Blicke begegneten sich über die Distanz des Flures hinweg.
    »Ach«, sagte er, plötzlich ganz leise, »ihr habt also ein Junges!«
    Ich würde die Stimme in meinen Träumen hören. Ich würde seine Augen sehen und in meiner Erinnerung würden sie gelb sein, wie die eines Wolfes. Ich wusste es im selben Augenblick, als ich hastig rückwärtstaumelte, zurück in mein Zimmer.
    Tür zu, zu, zu, warum habe ich keinen Schlüssel, warum will Mamu mir keinen Schlüssel geben, gleich kommt er durch die Tür, gleich, warum kommt er nicht, was kann ich davorstellen, es ist nichts da, ich kann ihn nicht noch einmal ansehen, bitte nicht!
    Eisige Nachtluft schlug mir entgegen, ich hockte auf dem Fensterbrett. Bekkas Stimme in mir: »Ich hätte gar nicht so viel Schwung nehmen brauchen, es ist näher, als es aussieht!« Ich hatte nicht ihren Mut, ich würde es nicht schaffen, gleich würde ich tot sein,

Weitere Kostenlose Bücher