Liverpool Street
mussten sie nicht erst Englisch lernen oder so was?«
Ich war fasziniert. Ruben sah mich mitfühlend an. »Du wirst verfolgt und weißt nicht einmal, wer du bist«, sagte er.
Schon wieder so ein merkwürdiger Satz. Fast hätte ich ihm empört widersprochen, aber Ruben sah jetzt wirklich traurig aus. Als ob ich ihm leidtäte. Als ob ich irgendetwas ganz Wichtiges verloren und es nicht einmal gemerkt hätte.
»Und? Wer bist du?«, erwiderte ich ein wenig herausfordernd.
Er lächelte. »Ich bin hier geboren, aber meine Familie ist aus Ostpolen. Meine Mutter ist Beile, mein Vater Jakob. Der Vater meines Vaters heißt Herschel, seine Frau Zeitel …«
Ruben erzählte mir noch viel mehr an diesem Nachmittag, während ich auf der Küchenbank lag und darauf wartete, dass meine Mutter mich abholte. Von der kleinen jüdischen Siedlung an einem großen Fluss, von Händlern, die schwere Tragegestelle Hunderte Kilometer durchs Land trugen, bevor sie freitags zu ihren Familien zurückkehrten, um den Schabbat zu feiern. Von der Pest, dem Schwarzen Tod, in dessen Folge Rubens Vorfahren nach Polen geflüchtet waren. Man beschuldigte sie, die Brunnen vergiftet zu haben.
Doch auch in Polen hatte man die Juden nicht in Ruhe gelassen. Es gab kleinere Angriffe und größere Pogrome und schließlich die Kosaken, die Furcht und Schrecken verbreiteten. »In Polen morden sie uns seit Hunderten von Jahren«, sagte Ruben. »Wir sind zurückgekommen nach Deutschland, als es hier wieder besser wurde. Die Juden aus dem Osten leben hier nicht besonders gut, aber sie leben. Unser Vorfahr, der über die Elbe gekommen ist, hieß Trachim, seine Frau Didl. Ihre Tochter, Shanda, heiratete Gerschom …«
Ich hörte die Wanduhr nicht mehr ticken, ich vergaß meine Verletzungen, ich vergaß den miesen, unbedeutenden kleinen Richard Graditz. Jeder der Namen, die Ruben nannte, hat sich dafür tief in mein Gedächtnis gebrannt. Denn ich bin es gewesen, der Ruben seine Geschichte erzählt hat.
Vielleicht war ich die Einzige, die Letzte. Keine vier Wochen später stand ich in der Wohnung der Seydenstickers und es war niemand mehr da. Es war der Tag nach dem 28. Oktober 1938 und jedes Jahr, an jedem 28. Oktober, spreche ich laut die Namen derer aus, die ich von Ruben gehört habe.
»Sie sind alle weg«, flüsterte Bekka und versuchte mich am Arm aus der Wohnung zu ziehen. »Sie haben die Polen abgeholt, ich hab’s dir doch gesagt. Die polnische Regierung hat allen, die seit mehr als fünf Jahren im Ausland leben, die Staatsbürgerschaft entzogen, und die Deutschen wollten sie auch nicht behalten. Sie haben sofort alle eingesammelt und noch in der Nacht über die Grenze geschafft. – Ziska, was machst du denn da?«, fragte sie nervös. »Lass uns verschwinden! Ich glaube nicht, dass wir hier sein dürfen, selbst wenn die Haustür nicht abgeschlossen war!«
Aber am Ende half sie mir doch, die Matratzen an der Wand zu stapeln, die Essensreste auf den Tellern wegzuwerfen, das Geschirr von dem überstürzt verlassenen Tisch zu räumen und abzuwaschen. Seydenstickers benutzten unterschiedliches Geschirr und Besteck, um Milch- und Fleischspeisen voneinander zu trennen. Es war mit verschiedenen Farben markiert und wir achteten sorgfältig darauf, dass wir alles an den richtigen Platz zurückstellten.
Sie kamen nie wieder, aber ich glaube, Ruben hätte sich über uns gefreut.
3
Das spurlose Verschwinden der Seydenstickers und aller Familien, die mit ihnen im selben Haus gelebt hatten, war das erste Ereignis in meinem Leben, das mich bis ins Mark, bis in den letzten Winkel meiner Existenz erschütterte. Ich wusste um die Zukunftsängste meines Vaters, kannte die endlosen Diskussionen meiner Eltern, bei denen es um unsere »Rettung« ging; ich war verprügelt worden und hatte Freundinnen verloren. Doch nichts war vergleichbar mit dem Schock und der Hilflosigkeit, die ich empfand, als wir die Wohnungstür der Seydenstickers hinter uns zuzogen, durch den verlassenen Hinterhof gingen und auf eine Straße hinaustraten, in der das Leben weiterging, als wäre nichts passiert. Autos hupten, Pferdefuhrwerke zöckelten vorbei, Frauen schleppten Einkäufe und schoben Kinderwagen. Der Bäcker legte ein großes Blech voll Kuchen in die Auslage. Tauben flogen vor mir auf. Ich holte so tief Luft, wie ich nur konnte, um zu spüren, dass es mich noch gab.
Zugleich war es das erste Ereignis, über das ich mit meinen Eltern nicht reden konnte, was mein Gefühl der
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