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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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verloren, die er persönlich gekannt hat, und ich werde mir keine Minute länger anhören, wie du ihm in den Rücken fällst!«
    Onkel Matthew wurde blass. »Du hast Recht«, sagte er. »Ich bin nicht seiner Meinung, aber ich schulde ihm wenigstens moralische Unterstützung.«
    »Geh ihm nach«, bat Amanda müde. »Ich vermute, du findest ihn im Garten, eine Zigarette rauchend. Lass dir auch eine geben. Egal. Hauptsache, ihr bleibt eine Weile draußen. Frances und ich haben nämlich langsam genug von euch.«
    »Ist das wahr?«, fragte ich besorgt, als er gegangen war. »Gary hat Freunde verloren?«
    »Ja, vier Jungen, die mit ihm zusammen in der Grundausbildung waren.«
    »Das hat er mir gar nicht erzählt!«, murmelte ich enttäuscht.
    Aber Amanda erwiderte nur: »Er wird froh sein, jemanden zu haben, mit dem er sich noch über normale Dinge unterhalten kann.«
    Sie hatte Recht: Sobald wir allein waren, stellte sich die alte Vertrautheit zwischen Gary und mir rasch wieder ein. Für einige Tage teilten wir sogar ein neues Geheimnis – wenn auch eines, auf das ich liebend gern verzichtet hätte!
    Glücklich durfte ich das Werkzeug anreichen, während mein Held den Wellblechbunker in unserem Garten auseinandermontierte. »Ich hoffe, sie bringen Dad bei der Home Guard bei, wie man einen ordentlichen Unterstand baut«, bemerkte er spöttisch, nachdem er das matschige Loch freigelegt hatte, das beim ersten Aufbau unseres Shelters nicht abgedichtet worden war. »Die Schaufel, Frances!«
    Ich unterdrückte den Impuls, einen eifrigen Sprung nach dem Werkzeug zu machen, rückte stattdessen meinen Strohhut zurecht und bewegte mich zierlich, dem Befehl Folge zu leisten. Garys nackter Oberkörper glänzte in der Sonne und ich bewunderte das Muskelspiel seiner Schultern und Arme, während er mit ausholenden Bewegungen nasse Erde aus dem Loch schaufelte. Die Zigarette, in diesen Tagen sein ständiger Begleiter, hing ihm lässig aus dem Mundwinkel. »Du bist fantastisch braun«, bemerkte ich.
    »Aber nur bis hier!« Gary enthüllte einen blitzweißen Streifen unterhalb seiner Hüften. »Ohne Klamotten sehe ich aus, als hätte mich jemand zur Hälfte in Gülle getunkt.«
    »Also bist du den ganzen Tag an Deck und die Sonne scheint«, antwortete ich geistreich.
    »Nun, mein Dienst beinhaltet eine gewisse Menge Schrubben und Wischen im Freien, da hast du Recht«, meinte er verschmitzt. »Aber weißt du schon, dass ich demnächst auf einen der brandneuen Schlachtkreuzer versetzt werde? Die Princess of Malta ! Klingt gut, was?«
    »Fantastisch!« Ich seufzte. »Zu schade, dass ich nicht mehr bei meinen Freundinnen in Tail’s End bin. Ich könnte so wunderbar mit dir angeben!«
    Gary lachte und stützte sich auf die Schaufel. »Tail’s End! Wie habe ich deine Berichte genossen! Hast du noch Kontakt zu deinem Soldaten?«
    »Frank?«, vergewisserte ich mich, als ob es da noch andere gäbe. »Im Moment nicht. Er war in Frankreich, er wird evakuiert worden sein, nehme ich an.«
    »Du solltest ihm aber trotzdem weiter schreiben. Vielleicht wird ja eine Freundschaft daraus!« Er tat einen tiefen Zug an seiner Zigarette. »Ich schreibe übrigens auch jemandem«, ergänzte er wie beiläufig.
    »So?« Ein scharfer Stich fuhr in mein Herz. »Wem?«
    »Melissa Cole. Der Schwester von Philip, meinem ersten Kameraden, den es erwischt hat – vor Island. Ich habe seinen Eltern damals einen Brief geschrieben, aber wer antwortete, war Melissa.«
    »Ich nehme an«, erwiderte ich und quetschte trotz plötzlichen Atemstillstands ein lachähnliches Geräusch hervor, »ihr schreibst du aber nicht bloß Postkarten?«
    »Da hast du allerdings Recht. Hier …« Er griff in seine Hosentasche, zückte sein Portmonee und entnahm ihm ein kleines Foto. »Wie findest du sie?«
    »Nett«, log ich der sanften, rundgesichtigen Blondine ins Gesicht und setzte mich unauffällig. Das Flimmern vor den Augen, die aufsteigende Übelkeit … wenn ich eine Sekunde länger gestanden hätte, wäre ich geradewegs zu Gary in die Grube gefallen.
    Gary nahm mir das Bild wieder aus der Hand und blickte es versonnen an. »Ich finde, sie sieht ein bisschen aus wie Mum – so um die Augen«, meinte er, was mir vollends den Rest gab.
    »Also, das finde ich überhaupt nicht«, knurrte ich.
    »Ich werde es bald wissen«, kündigte Gary an und steckte sein Foto wieder ein. »Ich fahre nämlich von hier aus drei Tage nach Henley zu Melissas Familie.«
    Mir stand der Mund offen.

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