Liverpool Street
er mich! »He!«, rief er leise. »Sag bloß nicht, das ist meine kleine Schwester!«
Allein ihn an den Fuß der Treppe treten zu sehen, jagte Schauer über meinen Rücken. Ich lehnte mich an das Geländer, ließ den Blick abwechselnd über ihn und das Holz huschen, an dem ich mit großer Konzentration herumschabte, und konnte gar nicht sagen, was schöner und gleichzeitig schwerer auszuhalten war: Gary anzusehen – oder zu spüren, wie er mich anschaute!
Er hatte sich sehr verändert. Sein Gesicht war schmal geworden, fast kantig, und er wirkte um Jahre älter als neunzehn. Sonnenbräune hob die grünen Augen noch hervor, doch auch sie leuchteten anders als früher. Ernster, klüger. Als ob in diesem Krieg niemand derselbe bleiben konnte, selbst mein unbekümmerter, unverwundbarer Bruder nicht.
Wie immer war es Gary, der den Zauber brach und mir die ersten Schritte entgegenkam. Fast ohne Zögern hüpfte ich danach endlich auf ihn zu und fiel ihm um den Hals. »Du kommst zur rechten Zeit!«, rief ich. »Mum und ich haben gerade fürchterlich gestritten!«
Da war es. Ich nahm an, dass ich » deine Mum« hatte sagen wollen, aber wie konnte ich das wissen, wo ich doch gar nicht nachgedacht hatte? Es rutschte mir einfach heraus, wohl weil ein fürchterlicher Streit das Einzige war, was meinem Zusammenleben mit Amanda bisher noch gefehlt hatte. Trotzdem waren wir beide, Amanda und ich, hochgradig verdutzt, es mich sagen zu hören.
Nicht so Gary. »Worum ging’s?«, erkundigte er sich sofort.
»Eigentlich«, antwortete Amanda, während wir ihn in die Küche führten, »nur um einen Hut.«
»Einen Hut, im Ernst? Sieh sie dir an, Mum, sie wird erwachsen! Habt ihr euch schon über die Fakten des Lebens unterhalten?«
Erwartungsvoll warf Gary seinen Seesack in die Ecke. »Setz dich und iss ein Stück Kuchen«, sagte Amanda mit einer der strengsten Stirnfalten, die ich sie je hatte ziehen sehen.
Gary kicherte. »Das heißt nein. Mensch, ist es schön, wieder zu Hause zu sein!«
Staunend saßen wir ihm gegenüber und sahen zu, wie er in großem Tempo Kuchen in sich hineingabelte. »Wo ist Dad?«, fragte er mit vollem Mund.
»Macht sich im französischen Koordinationsbüro nützlich. Er will um vier zu Hause sein. Wie kommt es, dass du schon da bist?«
»Ich bin gar nicht mit dem Zug gekommen. Ein Stabsarzt hat mich und zwei andere im Wagen aus Plymouth mitgenommen«, mampfte er. »Soso, Dad unterstützt also die freifranzösische Regierung! Ist es nicht ein starkes Stück, wie viele Länder jetzt von London aus regiert werden? Frankreich, Belgien, Norwegen, Polen, die Tschechoslowakei, und die niedliche Königin Wilhelmina ist auch hier! Ist Frankreich eigentlich das siebte oder achte Land, das kapituliert hat? Allmählich verliert man ja den Überblick. Aber nicht wir, das sage ich euch! Rule, Britannia! Wir werden standhalten! Kann ich noch ein Stück Kuchen haben?«
Amanda beugte sich vor, um Gary zu bedienen, und das seltsame Gefühl, das mich beschlichen hatte, während ich ihm zuhörte, verstärkte sich. Irgendetwas stimmte nicht. Er redete eine Spur zu schnell, einen Ton zu laut, und was der Sinn der ungewohnten Geschwindigkeit sein sollte, mit der er das Essen verschlang, erkannte ich in den Augenblicken, in denen er auf sein zweites Stück Kuchen wartete. Seine rechte Hand zitterte – ein wenig nur, aber doch deutlich genug, um davon ablenken zu wollen. Unsere Augen trafen sich und als er bemerkte, dass ich es gesehen hatte, schüttelte er ganz leicht den Kopf und fragte mich in fast warnendem Ton: »Irgendwas Neues von Walter?«
»Nein«, erwiderte ich und versuchte, den Blick nicht zu senken. »Aber es geht ihm gut und ich schicke ihm jede Woche die Hälfte meiner Süßigkeitenration.«
»Braves Mädchen. Nichts hebt die Moral so sehr wie süße Pakete. Hört mal, nehmt es mir nicht übel, aber ich muss jetzt dringend eine rauchen und danach ein Stündchen schlafen. Ihr wollt doch, dass ich auf der Höhe bin, wenn Dad kommt.«
Er stand auf, ohne sein zweites Stück Kuchen auch nur angerührt zu haben, zog ein zerdrücktes Päckchen Zigaretten aus der Tasche und war schon auf dem Weg zur Küchentür. »Gary, du darfst hier drinnen rauchen, du brauchst nicht …«, begann Amanda.
»Lass mich einfach erst mal ankommen, Mum«, unterbrach er sie und die muntere Fassade fiel ohne jede Vorwarnung von ihm ab. Er sah jung, verletzlich und sehr müde aus. Schnell verschwand er durch die Tür und sein
Weitere Kostenlose Bücher