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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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unwillkürlich seine Hand. »Nein!«, flüsterte ich. »Das ist zu gruselig!«
    »Gruselig? Es ist wunderschön, du wirst sehen!«
    Wir bogen um die Ecke und befanden uns in dem hohen, nur wenige Meter breiten Raum direkt hinter der Leinwand. Ein einziges Mal erst war ich in diesem Raum gewesen, der als Abstellkammer benutzt wurde. Damals war ein grässlicher Zerstörer über die Leinwand gestampft, direkt auf mich zu, und die Töne der Wochenschau waren in einer Lautstärke über mich hergefallen, dass ich ihren Nachhall noch Stunden später unter meinen Rippen gespürt hatte. Heute fanden wir uns Auge in Auge mit dem freundlichen Gesicht von James Stewart, der durch Washington spazierte, umgeben von einer süßen, traurigen Melodie.
    Sofort fühlte ich mich wie verzaubert. Es war schwer zu glauben, dass es derselbe Raum war. »Aber was, wenn sie uns von der anderen Seite sehen?«, gab ich zu bedenken.
    Gary schüttelte den Kopf. »Tragisch, wie der Schulunterricht während des Krieges den Bach runtergeht! Das Licht fällt von vorne auf die Leinwand und bricht sich dort, ergo werden wir auch nicht gesehen. Hier, nimm dir einen Stuhl, Frances.«
    Gehorsam nahm ich einen Holzstuhl von dem Stapel an der Wand und stellte ihn vor die Leinwand, um dem Film zuzusehen, den ich längst kannte, wenn auch noch nicht spiegelverkehrt. Doch Gary drehte seinen und meinen Stuhl zueinander und setzte sich mit ernstem Gesicht vor mich hin. »Ich möchte eine Familiensache mit dir besprechen, Frances«, sagte er.
    Wie seltsam und fremd er aussah. Eine Hälfte seines Gesichts lag im Dunkeln, während die andere vom hellen, flackernden Licht beschienen wurde. Das einzelne sichtbare Auge bohrte sich in mich. Die Stimmen aus den Lautsprechern hörte ich nicht mehr.
    »Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich dies tun soll«, fuhr er fort. »Über die Zukunft sprechen, die niemand kennen kann, besonders in diesen Tagen nicht. Aber dann dachte ich … zum Teufel, wenn jemand versteht, was ich meine, dann ist es Frances! Meine kleine Schwester mit ihren zwei Leben, mit all den Entscheidungen und Vorkehrungen, die sie jetzt schon treffen muss, ohne zu wissen, wofür … sie weiß Bescheid.«
    »Natürlich«, antwortete ich zuversichtlich auf sein Lächeln hin, obgleich ich mich fragte, wie er, oder irgendjemand, wohl so etwas Erstaunliches von mir denken konnte.
    »Ich habe die Absicht, aus diesem Krieg zurückzukehren«, sagte Gary. »Ich will auf die Universität gehen, einen Beruf lernen, ein guter Ehemann werden und … na ja, meine Mum zur vielfachen Großmutter machen, auch das!« Er lachte kurz auf und wurde gleich wieder ernst. »Das habe ich fest vor. Daran glaube ich. Aber was, wenn es nicht sein soll? Es wäre doch dumm, nicht auch darüber nachzudenken, nicht wahr?«
    Ich antwortete nicht. Ich brauchte es nicht. Plötzlich wusste ich genau, wovon er redete.
    »Ich muss etwas von dir wissen, bevor ich morgen fahre, Frances. Ich habe dich immer meine Schwester genannt … aber willst du das auch sein, wenn ich nicht zurückkehre? Willst du meinen Eltern eine Tochter sein?«
    »Ja, das will ich«, flüsterte ich.
    »Versprichst du, meinen Platz einzunehmen, sie zu trösten, ihnen Freude zu machen und für sie da zu sein, wenn sie einmal alt sind?«
    »Ich könnte nie deinen Platz einnehmen, aber alles andere verspreche ich, ja!«
    »Versprichst du es, weil ich dich überrumpelt habe?«, fragte er leise.
    »Nein!«, antwortete ich mit Entschiedenheit. »Ich verspreche es, weil ich sie liebe und mir gar nichts anderes vorstellen könnte.«
    »Und deine eigene Mutter?«
    Ich musste lächeln. »Mamu wird doch auch eine neue Familie brauchen, wenn sie kommt.«
    Gary wandte sich ab und blickte zur Leinwand, Licht und Schatten huschten über sein Gesicht und ich konnte nicht erkennen, ob er froh oder traurig war. »Ich kann’s kaum erwarten, sie kennenzulernen«, sagte er schließlich, während sein Gesicht sich zu einem breiten Grinsen verzog. »Dann werde ich ihr als Erstes erzählen, dass eine der besten Taten meines Lebens darin bestand, ihre Tochter mit einer Autotür k.o. zu schlagen.«
    »Moment! Ich bin es gewesen, die euch ausgesucht hat, nicht umgekehrt!«
    »So? Das habe ich aber anders in Erinnerung. Du wolltest nur heraus aus Satterthwaite Hall , mit sooo einer Beule am Kopf und zweieinhalb Worten Englisch, und das Erste, was du getan hast, ist meine Mum anzufallen! – He! Geht das schon wieder los! Hörst du wohl

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