Liverpool Street
auf, mich zu treten?«
Das Licht mochte von vorn auf die Leinwand fallen und sich dort brechen, so lange es wollte … doch das Kichern und Poltern, das mit einem Mal hinter der Leinwand ausbrach, war keineswegs zu überhören! Verdutzt sahen die Zuschauer, wie James Stewart mitten in seiner entscheidenden Rede vor dem Senat in gefährliche, erstaunlich reale Schwingungen geriet. Fragende Gesichter wandten sich in Richtung Vorführraum – und fanden ihn unbesetzt, denn Amanda fegte bereits durch den Seitengang wie ein Torpedo.
»Seid ihr von Sinnen?«, zischte sie, packte uns an den Handgelenken und schüttelte uns auf dem Weg hinaus ein wenig durch. »Was ist bloß in euch gefahren?«
Aber weder Gary noch ich hätten gewusst, wie wir es ihr erklären sollten.
Einige Tage nachdem mein Bruder wieder auf See war, erhielt ich Post von Marjorie Duffy. Sie bedankte sich für die reizenden Briefe, die ich ihrem Sohn an die Front geschrieben hatte, und bedauerte aus tiefstem Herzen die traurige Nachricht, die sie mir mitteilen musste. Frank Duffy, dreiundzwanzig Jahre alt, begeisterter Tischtennisspieler, Hobbyschauspieler und Bäckergeselle aus Cornwall, war bei Dünkirchen schwer verwundet worden und gestorben, noch bevor er eins der rettenden Boote an die englische Küste erreicht hatte.
17
Das Ultimatum, der »letzte Friedensappell« Hitlers an die Adresse Churchills verstrich. Deutsche Truppen besetzten die britischen Kanalinseln Jersey, Guernsey und Alderney. Die Zahl der Fliegeralarme nahm zu; im Elysée mussten wir allabendlich damit rechnen, dass die Vorstellung durch den Klang der Sirene vorzeitig beendet wurde. Die Zuschauer verließen das Kino in großer Ruhe, Amanda schloss ab und wir fuhren nach Hause. Wer den Film nicht zu Ende gesehen hatte, durfte an einem der nächsten Abende noch einmal kostenlos hinein.
Noch waren keine Bomben auf London gefallen, doch das herrliche Wetter bescherte uns in diesem Sommer ein anderes Schauspiel. Eines Mittags sah ich eine Gruppe Jungen vor dem Schulgebäude stehen, das die Franzosen bereits im Juni wieder geräumt hatten. Angestrengt starrten sie nach oben, ich folgte ihrem Blick und entdeckte am klaren Himmel eine Vielzahl weißer Kondensstreifen, die sich trafen, überkreuzten, im Zickzack abfielen und an einem wirren Spinnennetz zu malen schienen, während wir zuschauten.
»Ein Luftkampf!«, erklärte ein Junge, der mein ratloses Gesicht bemerkte.
Ich kniff die Augen zusammen und sah mit angehaltenem Atem wieder hinauf, hatte eine blitzartige Vision von brennenden Flugzeugen, die aus dem Himmel direkt auf unsere Köpfe stürzten. Doch auf ein unsichtbares Kommando hin barst das Netz plötzlich auseinander und eine Reihe weißer Streifen jagte in östlicher Richtung davon, aufs Meer zu, über das sie gekommen waren. Die Jungen brachen in Applaus aus.
Wir Kinder wurden ermuntert, Aluminium für die Produktion von Spitfires zu sammeln, den wendigen kleinen Flugzeugen, die einen Großteil des Abwehrkampfes gegen die deutsche Invasion bestreiten sollten. Wieder klingelte ich an fremden Türen, doch diesmal um die Frau des Hauses um jeden Topf, jede Pfanne zu bitten, die sie entbehren konnte. »Zweitausend Kochtöpfe ergeben ein Flugzeug!«, lautete die Parole.
Onkel Matthew begann den kakifarbenen Overall der Home Guard zu tragen. Die Mitglieder des Zivilschutzes – Männer, die zu alt für den aktiven Heeresdienst waren, aber auch siebzehnjährige Jungen – behielten Tag und Nacht den Himmel im Auge, um Fallschirmspringer ausfindig zu machen, sie bedienten Suchscheinwerfer und Flakgeschütze, bauten Panzersperren und hielten ihre eigenen Manöver ab. Onkel Matthew brachte eines Tages sogar ein Gewehr mit nach Hause, ein schweres altes Ding, das noch aus dem Großen Krieg stammte. »Hätte nicht gedacht, dass ich damit noch einmal würde umgehen müssen«, murmelte er, während er es am Küchentisch zum ersten Mal putzte.
Ich hatte angenommen, dass Amanda gegen ein Gewehr im Haus entschieden protestieren würde, doch sie sagte kein einziges Wort, holte Onkel Matthew nur ein paar alte Lappen aus dem Schrank, mit denen er es pflegen konnte. Später dachte ich, dass es nicht die Bombenangriffe waren, die den Krieg endgültig zu uns nach Hause brachten. Es war der Anblick meiner Pflegeeltern, der beiden gütigsten Menschen, die ich kannte, mit einem Gewehr in unserer Küche.
»Ach, wie gut«, meinte Amanda beim Aufheulen der Sirenen, während sie gerade
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