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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Schatten huschte am Gartenfenster vorbei.
    Wir sprangen beinahe zum Fenster und schauten hinaus. Rauchend wanderte Gary am Zaun entlang, warf einen langen Blick in unseren Wellblechbunker, pflückte ein Blatt aus der Hecke. »Er ist so unglaublich dünn geworden«, flüsterte Amanda. »Hast du seine Hand gesehen?«
    »Du wirst ihn schon aufpäppeln! Und zitterst du nicht auch manchmal, wenn du müde bist?«
    »Du hast Recht. Himmel, sieh mich nur an.« Sie wischte sich über die Augen. »Ein Nervenbündel – genau das, was er jetzt braucht. Versprich, dass du mir einen Tritt gibst, wenn ich mich dumm anstelle.«
    Ich legte einen Arm um ihre Hüfte und schmiegte mich an sie. »Dann lasse ich mir etwas anderes einfallen. Ganz bestimmt gebe ich dir niemals einen Tritt!«
    »Mein Liebling! Es tut mir so leid wegen vorhin.«
    »Mir auch. Es war meine Schuld.«
    »Nein. Nur dieser verdammte Krieg!«
    Ich ließ sie los. »Was wollen wir kochen?«, fragte ich aufmunternd. »Ich bringe oben alles in Ordnung, dann helfe ich dir. Wenn Gary erst mal ausgeschlafen hat, wird es die tollste Woche des ganzen Jahres, wollen wir wetten?«
    »Nein. Juden wetten nämlich nicht«, entgegnete Amanda und konnte endlich wieder lachen, umso mehr als ich zurückgab: »Und ich wette, Juden sagen auch nicht verdammt .«
    Wann immer ich in der »tollsten Woche des ganzen Jahres« streitende Stimmen hörte, beschlich mich dieses merkwürdige Déjà-Vue … als ob ich mich wieder im Kinderzimmer bei Tante Ruth verkrochen hätte! War es tatsächlich so lange her, dass in meiner Gegenwart zuletzt gestritten worden war?
    Man konnte Gary und Onkel Matthew so weit auseinander setzen, wie man wollte: Irgendwann kam zwangsläufig die Rede auf den Krieg und schon befanden wir uns mitten im Unterhaus! Dort tobten Churchill und Lord Halifax gegen Chamberlain und Lloyd George; in unserem Esszimmer führten Gary und sein Vater dieselbe hitzige Debatte.
    Selbst Amanda wurde langsam sarkastisch. »Warum laden wir nicht die BBC zur Übertragung unseres Abendessens ein? Dann können die Politiker auch mal Urlaub machen«, regte sie an.
    Aber es half nichts. Der Krieg, der schon eine tiefe Kerbe in die europäische Landkarte geschlagen hatte, spaltete nun auch das Haus Shepard.
    »Wie kann jemand ernsthaft daran denken, vor diesen Gaunern zu kapitulieren?«, ereiferte sich Gary. »Und auch noch mein Vater, ein Jude! Du willst dein eigenes Todesurteil unterzeichnen, Dad? Deins, meins und das von Frances? Immerhin, Mum werden sie durchwinken und sich über ihren perfekten irisch-katholischen Stammbaum freuen.«
    »Es geht nicht um Kapitulation, sondern um ein Friedensabkommen mit Deutschland!« Onkel Matthew lief rot an. »Unser Todesurteil, wenn man überhaupt davon sprechen kann, wäre die Invasion. Bei einem Friedensschluss werden sie uns nicht anrühren.«
    »Sei nicht so naiv, Dad. Denen ist nicht zu trauen! Sie haben alle Abkommen gebrochen, die sie geschlossen haben.«
    »Hast du in letzter Zeit mal einen Blick auf die Karte geworfen? Acht Länder in unmittelbarer Nachbarschaft sind in deutscher Hand. Unsere gesamte schwere Ausrüstung ist in Frankreich geblieben. Die einzige Macht, die uns noch retten könnte, hat entschieden, neutral zu bleiben. Es ist keine Frage des Wollens, Gary, es ist nicht einmal mehr eine Frage der Wahl !«
    »Falsch! Roosevelt wird den Kongress überzeugen. Es kann nicht im Interesse der Amerikaner sein, dass die Nazis Europa beherrschen.«
    »Möchte jemand noch einen Bratapfel?«, fragte Amanda. Sie erhielt zur Antwort: »Der Kongress?! Die gesamte amerikanische Öffentlichkeit ist gegen den Krieg! Hast du es nicht gehört? Wir opfern keine amerikanischen Jungs, um die Juden zu retten! «
    »Okay«, sagte Gary. »Stellen wir uns einmal vor, wir schließen Frieden mit den Deutschen. Unsere Insel bleibt vorerst intakt. Und was geschieht sechzig Kilometer weiter?«
    Onkel Matthew schnaubte: »Ich habe gesehen, was dort geschieht. Ich war nämlich dabei!«
    »Umso weniger begreife ich dich! Diese Typen müssen verschwinden! Du magst zu alt sein, das zu verstehen, aber ich will nicht in einer Welt leben, in der die Nazis das Kommando haben!« Mit diesen Worten knallte Gary seine Serviette auf den Tisch und verließ das Zimmer.
    »Matthew«, sagte Amanda zwischen den Zähnen, »für dich mag die Sache vorerst ausgestanden sein, aber unser Sohn geht in wenigen Tagen zurück auf sein Schiff, um zu kämpfen! Er hat vier Kameraden

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