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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Er verkürzte seinen lang ersehnten Besuch bei uns , um zu einer fremden Familie zu fahren? Der Nachmittag wurde von Minute zu Minute schrecklicher!
    »Wissen deine Eltern davon?«, fragte ich entsetzt.
    »Noch nicht. Sie wissen, dass ich Montag abreise, aber sie denken natürlich, ich ginge sofort zurück aufs Schiff. Behalt es für dich, ja? Es reicht, wenn sie es am Wochenende erfahren. Melissa ist drei Jahre älter als ich«, setzte Gary hinzu. »Und nicht jüdisch. Scheint in der Familie zu liegen. Aber natürlich würde sie es nicht annähernd so schwer haben wie Mum.«
    »Moment. Du kennst Melissa nicht einmal!« Der Name verwandelte sich in meinem Mund in einen einzigen Zischlaut.
    Aber Gary hob nur die Schultern. »Man kann einen Menschen auch durch Briefe kennenlernen. Hat man im Krieg überhaupt eine andere Möglichkeit? Gib mir mal die Plane.«
    Ich warf die Abdeckplane ins Loch. Gary faltete sie auseinander und begann sie in den Boden zu treten. Es fühlte sich an, als ob er mir die Tritte versetzte.
    Drei Jahre älter als er. Zehn Jahre älter als ich!
    »Ich gehe wieder in den Hebräischunterricht«, sagte ich, als ob das noch irgendeinen Unterschied machte.
    »Fein!« Gary blickte auf und sah mich mit der alten brüderlichen Wärme an. Und in diesem Augenblick wurde mir endgültig klar, dass es nie etwas anderes gewesen war.
    »Du ahnst nicht, wie ich mich darauf gefreut habe, dich wiederzusehen!«, sagte er lächelnd. »Kaum zu glauben, dass ich dich erst letztes Jahr hier angeschleppt habe! Es fühlt sich an, als wärest du schon immer bei uns, nicht wahr? Und jetzt«, fügte er hinzu, »darfst du die andere Schaufel nehmen und die Erde vom Rand zu mir runterwerfen. Ich trample sie fest, wir lassen sie trocknen, dichten den Boden mit heißem Teer ab und setzen den Bunker wieder zusammen. Eine Schicht Erde darauf gepackt … und wenn dann die Bomben fallen, habt ihr es hier richtig kuschelig und gemütlich!«
    Ich weinte drei Nächte. Bis die Reihe an Amanda kam, heimlich Tränen zu vergießen – nicht wegen Melissa Cole persönlich, sondern wegen der drei Tage mit Gary, um die wir betrogen wurden –, ging es mir bereits besser und ich bezog sogar eine gewisse Befriedigung daraus, endlich wieder jemanden zu hassen. Seit den Tagen von Richard Graditz hatte ich niemanden so verabscheut wie diese unbekannte, nichts ahnende Blondine aus Henley. Zum Glück hatte ich damals noch nichts von Voodoo gehört, sonst hätte ich möglicherweise etwas richtig Widerwärtiges ausprobiert! So beschränkte ich mich darauf, inbrünstig und ohnmächtig zu hoffen, dass Melissa Cole bis zu Garys Besuch ein riesiger Pickel wuchs.
    Gary, der nicht ahnte, in welche Abgründe er mich gestürzt hatte, entspannte sich zusehends. Er rauchte zwar pausenlos und ging augenblicklich in die Luft, sobald die geringste Kleinigkeit ihm nicht passte. Aber die Unruhe fiel im Laufe der Woche von ihm ab, er schlief viel und aß sich mit großem Genuss durch sämtliche Leibgerichte, die Amanda ihm kochte. Sie war extra zu Hause geblieben, um ihn zu verwöhnen, aber am Tag vor seiner Abreise wollte er dann doch unbedingt noch sehen, wie sie das Elysée schmiss.
    »Was ist denn schon dabei? Ich mache nichts anderes, als Dad dein Leben lang gemacht hat!«, erwiderte sie verwundert. »Das hast du doch schon Hunderte Mal gesehen.«
    »Was schon dabei ist? Mum, das ist nicht dein Ernst! Nach fast fünfundzwanzig Jahren verlässt du Heim und Herd und findest, dass das nicht ungewöhnlich ist?«
    »Erinnerst du dich an Miss Tabbey, deine alte Lehrerin? Sie geht jetzt Tag für Tag in die Fabrik und montiert Teile für die Spitfire. Das ist ungewöhnlich!«, versetzte Amanda, aber natürlich machte es sie dann doch sehr glücklich, den Stolz zu spüren, mit dem Gary ihr beim Wechsel der Filmrollen zusah.
    Während der Hauptfilm lief, sagte er plötzlich: »Ich kann morgen auf keinen Fall fahren, ohne Frances meinen Lieblingsplatz im Elysée gezeigt zu haben!«
    Neugierig folgte ich Gary durchs Foyer in den rückwärtigen Teil des Kinos. Durch eine Tür mit der Aufschrift »Kein Durchgang« schlüpften wir in den engen unbeleuchteten Gang, der an den nachträglich eingebauten Seitenwänden des Zuschauerraums entlangführte. Die Stimmen und Geräusche des Films folgten uns; seine flackernden Lichter fielen durch den schmalen offenen Zwischenraum zwischen Wand und Decke und wiesen uns den Weg. Ich ahnte jetzt, wo Gary hinwollte, und ergriff

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