Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
Vom Netzwerk:
um den Walter und ich so erbittert gestritten hatten, an Garys Lieblingsplatz hinter der Leinwand. »Halte durch!«, flüsterte ich dem stillen Foyer zu. Aber ob unser Kino jemals wieder Filme spielen würde? Ob es am nächsten Tag überhaupt noch stand?
    An der U-Bahn warteten bereits die zahlreichen mit Bettzeug und Koffern bepackten Menschen, die jeden Abend in den Schacht hinunterfuhren, um zu übernachten. Es musste alles andere als bequem sein: Die Bahnen fuhren bis tief in die Nacht, der Betonboden war hart und der regelmäßige Schwall heißer Luft, der durch die Tunnel blies, wühlte Gestank und riesige Mückenschwärme auf. Während wir auf den Zug warteten, hörten wir es die ganze Zeit schimpfen und klatschen, bis wir selbst überall juckende Stiche zu spüren meinten.
    Und die U-Bahnen waren nicht einmal sicher. Hatte nicht die Station Balham gerade erst einen Treffer erwischt? Mehr als sechzig Menschen waren gestorben.
    »Wir müssen uns etwas für den Winter überlegen«, sagte Amanda einige Stunden später, als wir zu zweit frierend auf ihrer Pritsche saßen und versuchten, dem entnervenden Heulen der Stukas nicht zu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Wenn man den Sturzkampfbombern im freien Fall zuhörte, wünschte man sich beinahe die Heinkels, Dorniers und Messerschmidts zurück, deren gleichmäßiges Dröhnen in der Erinnerung nahezu beruhigende Züge annahm.
    »Ich will nicht in die U-Bahn«, murmelte ich und vergrub das Gesicht an ihrer Schulter.
    »Brauchst du auch nicht. Es gibt eine Anfrage vom Altenheim, ob ich wieder aushelfen kann. Sie wollen mich sogar bezahlen. Nun, da das Elysée geschlossen ist, können wir das Geld gut brauchen … und wenn ich die Nachtdienste übernehme, lassen sie uns beide in den Keller!«
    Sehnsüchtig dachte ich an den warmen Keller des Altenheims, in dem man mit einem einzigen Radioknopfdruck die Geräusche der Luftschlacht einfach ausschalten konnte. »Sag ja!«, flehte ich.
    »Das habe ich bereits«, gab sie zu, »und zwar laut und klar, noch bevor die Oberschwester den Satz zu Ende gesprochen hatte. Ich habe nicht einmal Matthew gefragt! Am Sonntag fange ich wieder an. Bis dahin allerdings müssen wir hier durchhalten.«
    Vier Nächte. Eine davon halb vorbei. »Das schaffen wir!«, erklärte ich mit neuem Mut.
    Amandas Verbindung zum jüdischen Altenheim stellte sich auch in anderer Hinsicht als Segen heraus. Professor Schuelers rechte Körperhälfte war gelähmt, er konnte weder das Bett verlassen noch alleine essen. Der Arme schämte sich so sehr, dass er auf der Stelle anfing zu weinen, als er uns sah.
    »Warum haben Sie uns nicht verständigt, mein Lieber?«, fragte Amanda und setzte sich auf seine Bettkante. Ich selbst blieb erst einmal unbehaglich stehen. In dem großen Krankensaal standen Dutzende Betten, die nur durch Vorhänge voneinander getrennt waren. Bombenopfer der vergangenen Nächte lagen neben Pflegefällen wie Professor Schueler, die nur noch hierbehalten wurden, weil man nicht wusste, wohin mit ihnen. Es war schweißtreibend warm und roch nach Medizin und Körperausdünstungen.
    »… keine Umstände«, murmelte Professor Schueler undeutlich.
    »Sie machen keine Umstände. Als Erstes holen wir Sie hier heraus. Ich besorge Ihnen ein schönes Zimmer in dem Heim, in dem ich arbeite und Frances Sie jeden Abend besuchen kann. Es gibt einen sehr guten Therapeuten dort. Bestimmt geht es Ihnen bald wieder besser!«
    »Sie sind eine Gerechte!«, antwortete er gerührt auf Jiddisch.
    Ich trat nervös von einem Bein auf das andere und verspürte den dringenden Wunsch, ebenfalls etwas Bedeutendes zu tun oder zu sagen, aber wie immer, wenn die Gelegenheit dazu auftauchte, bot mein Kopf nichts Passendes an. »Ich schäle ihm erst einmal eine Orange«, verkündete ich schließlich und machte mich auf die umständliche Suche nach einem Messer. Meinen alten Freund in so hilfloser Lage zu sehen, erschreckte mich.
    Als ich nach einer Ewigkeit mit der geschälten Orange zurückkehrte, kämmte Amanda Professor Schueler gerade das Haar. Er warf mir einen verlegenen Blick zu, wirkte aber schon wesentlich munterer. »Weiß nicht, ob ich das essen kann«, bemerkte er in Richtung der Orange.
    »Frances wird Ihnen helfen«, sagte Amanda zu meinem Schreck und bedeutete mir, mich neben sie auf die Bettkante zu setzen. Dort nahm sie mir den Teller mit dem Obst aus der Hand, hielt ihn Professor Schueler unters Kinn und fütterte ihm die Orange in kleinen

Weitere Kostenlose Bücher