Liverpool Street
Flugzeuge an unsere Abfangjäger verloren, zwang Amanda mich, wieder zur Schule zu gehen. Anders konnte man es nicht ausdrücken: Alles Betteln, Heulen und Wüten blieb zwecklos. Nachts, wenn unser Leben in Gefahr war, hatte ich die zärtlichste und besorgteste Mutter, die ich mir wünschen konnte – und es nur wenige Stunden später mit einer völlig anderen Person zu tun!
»Du hast die Wahl«, sagte sie kühl, »zwischen Schule in Wales und Schule in Finchley. Natürlich gibt es da auch noch die Möglichkeit, zum Höhlenmenschen zu werden, aber solange ich etwas zu sagen habe, ist das keine Option.«
Und damit war die Sache für sie erledigt. Jeden Morgen zog ich nach vergeblicher Diskussion los, die Gasmaske um den Hals und mit so viel Wut im Herzen, dass Onkel Matthew scherzhaft behauptete, mich schon von Weitem an dem schwarzen Rauchwölkchen zu erkennen, das über mir stand. Wir trafen uns oft auf dem Weg, denn um die Zeit, da ich zur Schule ging, kam er von seinen nächtlichen Einsätzen zurück. Während er den Tag verschlief, kaufte Amanda ein, kochte und putzte. Das Elysée war, wie fast alle Kinos, seit Mitte September geschlossen. Meistens meldete sich Onkel Matthew am frühen Nachmittag zurück zum Dienst.
Was genau er dabei erlebte, erzählte er in meiner Gegenwart nie. Ohne mir Näheres vorstellen zu müssen, wusste ich nur, dass er Suchscheinwerfer und Flakgeschütze bediente und mitunter Verschüttete ausgrub. Oft haftete dicker, fest sitzender Schmutz an seiner Haut, wenn er nach Hause kam, und Staub und Aschepartikel klebten ihm im Haar.
Mehrmals gab es Fliegeralarm, während ich in der Schule war. Mrs Holly, bleich und hohlwangig vom nächtlichen Schlafentzug, unterrichtete mit der Gasmaske vor dem Gesicht im Luftschutzraum weiter, vis-à-vis mit unseren Gummischnauzen. Dabei hatten wir Schüler deren Einsatz längst als Ablenkungsmanöver entlarvt: Die Deutschen warfen nur Brand- und Sprengbomben und eine Gummimaske konnte höchstens eine interessantere Leiche aus uns machen, wenn sie im Falle eines Falles mit unserer Haut verschmolz!
Aber Mrs Holly ließ sich nicht auf Diskussionen ein, sie machte eine ebenso prinzipielle Sache aus dem Tragen der Gasmasken wie Amanda aus meinem Schulbesuch. Nur den Hebräischunterricht ließen meine Pflegeeltern mich »für die Dauer des Krieges« abbrechen. Dass ich ihn nie wieder aufnehmen würde, ahnten wir nicht.
Innerhalb kurzer Zeit entdeckten die Jungen meiner Klasse ein neues Hobby: Sie sammelten Schrapnell, Bombensplitter. Einige gaben sogar damit an, während der Angriffe im Freien geblieben zu sein, um die besten Stücke zu erwischen, wenn es irgendwo krachte! Fast jeden Morgen fand ein großes Beschauen und Vergleichen der neuesten Ausbeute statt, mit genauen Berichten vom Wo und Wie und dem Vorzeigen von Beweisen in Form von Brandlöchern im Taschentuch, dass die Splitter beim Fund noch ganz frisch geglüht hatten.
Die Jungen hörten auch nicht auf zu sammeln, als es das Haus eines Mädchens aus unserer Schule traf. Sie hieß Bernice; am Tag zuvor hatte ich sie noch auf dem Schulhof gesehen, nur Stunden später waren sie, ihre Eltern und ihre Schwester tot. Einige gingen sich nach der Schule das eingestürzte Haus ansehen, aus dem man Bernices Familie in Decken gewickelt herausgetragen hatte. Sie waren nicht im Shelter gewesen, hatten sich lieber in dem kleinen Verschlag unter ihrer Treppe verschanzt, und erst jetzt erfuhr ich, wie viele meiner Klassenkameraden genau das Gleiche taten. Nur wenige übernachteten wie ich mit ihren Familien im Anderson-Shelter, im Keller oder einem anderen Schutzraum.
Wieder einmal traf mich die Erkenntnis, dass ich offenbar wenig Mut besaß. Nachts, wenn der Schrecken über uns tobte, hielt ich es nur aus, weil ich mir immer wieder einreden konnte, dass ich mich in einem Schutzraum befand. Kam ich an einem zerbombten Haus vorbei, mochte ich gar nicht mehr hinsehen, geschweige denn wäre ich auf die Idee gekommen, Andenken zu sammeln. Und ich ging auch Bernices Haus nicht besichtigen, obwohl es nicht weit entfernt in einer Querstraße des Harrington Grove lag.
»Man gewöhnt sich dran«, war oft zu hören; es gab sogar ein populäres Lied mit diesem Refrain. Aber auf mich traf das nicht zu. Ich verbarg es, so gut es ging, doch meine Angst nahm nicht ab. Ich betete nur, dass alles schnellstens aufhörte: die furchtbaren Geräusche der Nacht, die Ungewissheit, ob wir den Morgen erlebten und dann auch noch
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