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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Stücken.
    Kaum hatte ich angefangen, mich ein wenig ans Zusehen zu gewöhnen, stand sie ohne Vorwarnung auf und drückte mir den Teller in die Hand. »Ich rede mal mit der Oberschwester wegen der Entlassung«, kündigte sie an.
    Na schön. Ich nahm all meinen Mut zusammen und nahm ein Stück Orange vom Teller. »Schmeckt’s?«, fragte ich eine Spur zu laut.
    Professor Schueler nickte. Wieder erschienen Tränen in seinen Augen, eine davon rollte ihm über die Wange in den Bart, aber ich tat, als hätte ich sie nicht gesehen. »Der Kellner im Café Vienna hat mir gesagt, wo ich Sie finde«, plapperte ich. »Sehen Sie … ich musste nicht einmal ins Buch schauen! Aber vielleicht wäre es passender gewesen, Sachertorte mitzubringen!«
    Die eine Gesichtshälfte, die er noch bewegen konnte, verzog sich zu einem Lächeln, das mir ins Herz schnitt. »Gestern war der erste Tag, an dem wir uns in die Stadt getraut haben«, sagte ich. »Deshalb habe ich Sie nicht früher gefunden. Aber nun werden wir uns jeden Tag sehen. Ich kann Ihnen vorlesen. Ich singe auch! Sie lernen Bekannte von mir kennen, Herrn Mittenbaum, Herrn Becher und Herrn Zucker. Nachts sind wir alle im selben Luftschutzkeller. Der ist warm und ziemlich still, er hat sogar ein Radio!«
    Die Oberschwester, die kurz darauf mit Amanda wiederkehrte, meinte wohlwollend: »Na also! Der Patient ist ja schon auf dem Wege der Besserung! Warum haben Sie uns nicht gesagt, dass Sie Familie haben, Professor?«
    Professor Schuelers Englisch war schlecht, aber das Wort family verstand er doch. »Ich alter Esel«, antwortete er undeutlich, »wollte es wohl einfach nicht glauben.«
    Und die Familie wuchs! Nur wenige Tage später erhielten wir einen jubelnden Brief von Walter, der seine und seines Vaters Entlassung aus der Internierung ankündigte. Amanda und ich warteten am Bahnhof Liverpool Street auf die beiden – demselben Bahnhof, an dem Walter und ich beim Kindertransport getrennt worden waren, was mir äußerst schicksalhaft erschien. Endlich konnte ich den geliehenen Hut tragen, wenn auch eher aus Spaß – nichts, wirklich nichts hatte mich die wilde Freude erwarten lassen, die mich von den Zehen bis in die Haarwurzeln erfüllte, als ich Walter aus dem Zug steigen sah! Ich schrie aus voller Kehle seinen Namen, schubste mich auf unhöflichste Weise durch die Menge und warf mich mit der vollen Wucht eines Überraschungsangriffs an seinen Hals.
    »Uff!«, sagte er verdattert. »Was für eine Begrüßung! Ich sollte öfter wegfahren, was, Paps?«
    Schon ärgerte ich mich wieder über ihn. Herr Glücklich stellte ihren gemeinsamen Koffer ab und gab mir die Hand. Sein leises Rasseln und Husten hatte er nicht verloren, sein Gesicht jedoch nach all den Monaten auf der Isle of Man eine wesentlich gesündere Farbe. Beide Glücklich-Gesichter leuchteten zusätzlich auf, als sie Amanda erspähten, und zum ersten Mal verspürte ich den heftigen Wunsch, sie wäre etwas weniger schön!
    Zu Hause bezogen die Glücklichs Garys Zimmer und unseren neuerdings verlassenen Shelter, den sie ohne Schrecken begutachteten.
    »Es ist ohnehin nur für ein paar Tage«, sagte Walter zu mir. »Wir suchen uns Arbeit in einer Fabrik und versuchen ein Zimmer in der Nähe zu finden. Es wird jetzt jede Hand gebraucht, habe ich gehört. Noch lieber würde ich mich bei der Home Guard melden, aber die wollen mich als Ausländer nicht. Zur Armee darf ich, sobald ich achtzehn bin, aber nicht zum Zivilschutz – verstehe das, wer will!«
    »Der Krieg ist sowieso längst aus, bis du achtzehn bist«, zankte ich ihn.
    »So? Da wäre ich mir nicht so sicher. In den Diskussionszirkeln im Lager sind wir zu einer anderen Ansicht gelangt.«
    »Diskussionszirkel? Warte bis heute Nacht, dann wirst du merken, was los ist!«
    »Ach was.« Walter ließ sich von meinem herablassenden Ton nicht beirren. »Mit Bombenterror kriegen sie uns nicht! Göring hat eine Menge Flieger eingebüßt und ist seinem Ziel nicht einen Schritt nähergekommen. Nein, dieser Krieg wird in Übersee entschieden.«
    »Wo wir ein Schiff nach dem anderen verlieren!«
    »Aber das Angebot haben, eine ganze Flotte von den Amerikanern zu pachten! Gut, im Kampf steht England allein, aber das britische Empire ist immer noch stark. Australien, Neuseeland, Kanada, Indien, selbst die Gurkhas aus Nepal kämpfen auf unserer Seite! Die Deutschen werden sich ganz schön strecken müssen«, meinte Walter so selbstbewusst, wie ich seit Langem niemanden mehr

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