Liverpool Street
und Frau? Stell dir vor, mit einem Kuss wäre schon alles erledigt! Wenn es so schnell ginge, kämst du doch kaum dazu, dich zu fragen, ob du es wirklich willst, und mit wem!«
»Genau so war es!«, rief ich und erzählte von Wesley Howards blitzartiger Attacke, die beinahe mein Leben ruiniert hätte.
»Ein Glück, dass es so viel komplizierter ist!«, schloss ich und wir beide atmeten erleichtert auf – ich, weil ich nun endlich Bescheid wusste, und Amanda wegen dem, was hinter ihr lag. »Kann ich das mitnehmen und im Bett noch ein bisschen lesen?«, fragte ich und zeigte auf The Family Doctor.
»Dazu … würde ich nicht raten«, erwiderte Amanda gedehnt. »Ich schlage vor, wir lesen hin und wieder zusammen darin, ja?«
Ich antwortete: »Klar, wenn du gern möchtest!« Ich wusste ja nun, dass ich dieses interessante Buch nicht bei den anderen im Wohnzimmerregal, sondern in ihrem Schlafzimmer finden würde, wann immer ich Lust dazu hatte!
Siebenundfünfzig Nächte. Wann hörten wir auf zu zählen? Die Sirene heulte in einem fort, selbst wenn das gleichmäßige Brummen der Flugzeuge ab und zu für ein paar Stunden verstummte. Wenn die Bomber wiederkamen, fing die unbenutzte Pritsche über mir leise zu klappern an; wahrscheinlich hatte Gary die Schrauben nicht fest genug angezogen. Aber solange die Pritsche nicht klapperte, wusste ich, dass wir sicher waren.
Auch die Bilder wiederholten sich, verdichten sich in meiner Erinnerung zu einer einzigen, immer gleichen Sequenz: Die Gaslampe flackert und spielt mit den Schatten unserer Mäntel, die wir an Deckenhaken in den schmalen Gang zwischen den Pritschen gehängt haben. Amanda, durch den Gang von mir getrennt, blättert Seite um Seite um, liest sich durch den »Blitz« … Wenn es richtig schlimm wurde, wenn es heulte, krachte und gewaltige Erdstöße uns durchschüttelten, las sie mir vor: Psalmen, Kriminalromane, Frauenzeitschriften, die Tageszeitung, ganz egal. Wir waren allein, Onkel Matthew war im Dauereinsatz, kam nur tagsüber für ein paar Stunden, um zu schlafen.
Selbst die Gedanken waren dieselben, jede Nacht: Wenigstens Mamu wird keine Bombe auf den Kopf fallen, Holland hat ja kapituliert! Aber wie mag es Bekka gehen …?
Denn während die Deutschen London bombardierten, flogen britische Bomber Richtung Berlin. Ob Bekka nachts dasselbe hörte, bei Tag dasselbe sah wie ich? Flugzeuge, die wie Heuschreckenschwärme näher kamen, einige wenige als Vorhut an der Spitze und dann, in ihrem Schlepp, die ganze wütend summende Formation aus Hunderten von Bombern und Jägern. Auch die schwarzen Qualmwölkchen konnte man erkennen: winzige Puffs am Boden der Flugzeuge, unmittelbar bevor die Bomben fielen. Wenn sie einschlugen, prasselten ihre Splitter auf die Straße wie Hagelkörner, oder klirrendes Glas.
Es gab mehrere Versuche der Shepards, mich doch noch nach Wales zu schicken – im Oktober müssen mehr Kinder aus unserer Schule dort gewesen sein als zu Beginn der ersten Evakuierung. Aber ich gehe nicht! Ich habe keine Angst!
Fast keine jedenfalls. Die meiste Zeit. Dass es für Amanda anders aussah, lag daran, dass sie nichts ahnte von meiner Theorie . Sie sah nur, dass ich ihr auf Schritt und Tritt folgte, was mir selbst schon ziemlich peinlich war.Aber was, wenn die Bombe, die vielleicht auf unser Haus fiel, nur eine von uns traf?
In langen Bombennächten nahm meine Theorie Gestalt an: Die Juden glauben, die Toten lägen in ihren Gräbern und warteten dort auf einen einzigen, gemeinsamen Tag der Auferstehung, aber ich sehe das anders. Ich habe es mir durch den Kopf gehen lassen und bin überzeugt, dass wir in den Himmel kommen, sobald wir sterben, und dass dort unsere Familienangehörigen auf uns warten! Was aber ist mit denen, die nicht zu unserer leiblichen Familie gehören? Wenn es Amanda und mich gleichzeitig erwischt, haben wir auf dem Weg nach oben Zeit, uns zu verabreden. Wenn nicht, finde ich sie möglicherweise nie wieder. Der Himmel ist groß und wahrscheinlich sind die Engländer in einem ganz anderen Abschnitt untergebracht als die Mangolds aus Deutschland …
Krack-krack-krack-krack-krack! Auch das Knattern der Flak habe ich noch genau im Ohr. Und ich weiß, dass ich sehr oft dachte: Hoffentlich sitzen wir nicht im Winter noch hier! Hinter den dünnen Wellblechwänden unseres Shelters wird es bestimmt ein einziges grausiges Frieren und Krankwerden.
Als die Deutschen nur noch nachts angriffen, weil sie dabei weniger
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