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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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ein Zuhause besaßen, die Frage, ob Onkel Matthew mir auf dem Weg zur Schule begegnete oder ich bis zum Mittag warten musste, um zu erfahren, ob es ihn noch gab. Die Müdigkeit, die zum ständigen Begleiter wurde, das Essen, das ich an manchen Tagen nach wenigen Bissen stehen lassen musste, als ob ich einen Knoten im Mageneingang hätte. Ich gewöhnte mich nie.
    Erst im Oktober fuhren Amanda und ich wieder ins Stadtzentrum. Die Zerstörungen rund um unsere gewohnte Einkaufsstraße hielten sich in Grenzen – viele zerbrochene Scheiben, Schutt und Schmutz überall, doch nur vereinzelte Brandruinen starrten uns aus ihren schwarzen Fensterlöchern an. Unser Lebensmittelladen war an diesem Tag von einem noch nicht beseitigten Blindgänger betroffen und der Inhaber hatte sein Geschäft kurzerhand auf die Straße verlegt. Unter dem Pappschild Hitler schlägt uns nicht! gab es an dem provisorischen Stand sogar Orangen, mit denen wir uns sofort versorgten, schon weil sie unter tatkräftiger Mithilfe meines Bruders Gary nach England gelangt sein mochten!
    Das Elysée war unversehrt, die Scheiben im Eingang hatten wir gleich zu Beginn der Bombardements mit dicken Klebestreifen gesichert. Nur eine Menge Geröll, das von der anderen Straßenseite hergeschleudert worden war, und von der Wand gefallene Buchstaben des letzten Filmtitels lagen vor dem Haus. Und während wir den Gehweg freiräumten, geschah Erstaunliches: Nachbarn erschienen, um einen Schwatz zu halten! Nie zuvor hatte ich das erlebt; üblich war, nach einem höflichen Gruß seiner eigenen Wege zu gehen. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals so viele freundliche, fast heitere Gesichter gesehen zu haben wie an diesem Tag, da unsere Straße halb in Trümmern lag.
    Die aufgekratzte Stimmung war so ansteckend, dass ich mich zu meinem eigenen Erstaunen fragen hörte: »Kann ich ins Café Vienna fahren, um nach Professor Schueler zu sehen?«
    Amanda sah eine Spur erleichtert aus – wahrscheinlich ging es ihr langsam auf die Nerven, mich Tag und Nacht wie einen siamesischen Zwilling mitzuschleppen, sofern sie mich nicht gerade unter Wales-Androhungen in die Schule zwang! »Sieh aber zu, dass du in zwei Stunden zurück bist«, antwortete sie. »Wir müssen zum Tee wieder zu Hause sein.«
    Was, wie ich längst wusste, nichts mehr mit der geheiligten britischen Zeremonie zu tun hatte, sondern mit dem üblichen Beginn des Fliegeralarms am späten Nachmittag. »Bist du sicher, dass du mich hier nicht brauchst?«, fragte ich, nun doch von Zweifeln befallen.
    »Sag ihm einen schönen Gruß!«, erwiderte meine Pflegemutter und mir blieb nichts anderes übrig als loszulaufen, wenn ich mein Gesicht wahren wollte.
    Je weiter ich in die Innenstadt vordrang, desto verstörender war der Anblick, der sich mir bot. Halbe Straßenzüge waren brennend in sich zusammengefallen, an vielen Stellen stiegen immer noch schmutzige kleine Rauchfahnen aus den Trümmern. Andere Gebäude waren nur von Sprengbomben getroffen worden, ihre Dächer oder Außenwände sauber, ordentlich und ohne jeglichen Brand eingestürzt. Unversehrte Möbel blickten ins Freie, ich sah ein Schlafzimmer mit bunt bezogenen Betten, das beinahe einladend wirkte – nur gab es keine Treppe mehr, die hinaufführte. Rasch lief ich weiter, die Augen abgewandt, und musste auf die Fahrbahn ausweichen, da der Gehweg verschüttet war.
    Noch schrecklicher als die zerstörten Häuser war allerdings, den gewohnten kleinen Tisch im Café Vienna ohne Professor Schueler vorzufinden. »Keine Sorge«, sagte der Kellner, der sich an mich erinnerte. »Es geht ihm schon wieder besser!«
    »Was fehlt ihm denn?«, stotterte ich.
    »Ach, das weißt du noch nicht? Er hatte einen Schlaganfall, liegt im St.-Meade-Hospital.«
    St.-Meade-Hospital, murmelte ich auf dem Weg zurück gebetsmühlenartig vor mich hin. Keine Dreiviertelstunde, nachdem ich mich mutig von Amanda verabschiedet hatte, war ich verzweifelt wieder da.
    »Wir fahren morgen hin und besuchen ihn«, beruhigte sie mich. »Wenn er einen Schlaganfall hatte, kann er sich möglicherweise nicht mehr allein versorgen.«
    »Aber da ist niemand! Seine Schwester wohnt in München«, klagte ich.
    »Lass uns bis morgen abwarten und sehen, was er wirklich braucht, in Ordnung? Keine Sorge, jetzt wo wir wissen, was ihm passiert ist, können wir uns auch um ihn kümmern.«
    Das arme alte Elysée wieder abzuschließen, fiel mir schwer. Ich dachte an unser gemütliches Büro, an den Vorführraum,

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