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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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dann nur noch dabei gewesen sein, als die Zivilisation verteidigt wurde – und dabei denke ich nicht nur an uns Juden oder uns Briten oder die anderen »Guten« in diesem Spiel. Dies ist ein etwas widernatürlicher Gedanke und ich würde nicht wagen, ihn laut auszusprechen, aber hier ist er: Je länger ich darüber nachdenke, desto vorstellbarer wird mir, dass sich auch künftige Generationen von Deutschen einmal bei uns bedanken werden.
    Ob dir das bei deiner Entscheidung hilft? Oder hättest du es gern konkreter? Ich tue mich schwer zu sagen: »Ja, Walter, werde Soldat! Versuch dich nicht abschießen zu lassen und komm als Held zurück!« Wenn es so gut ausginge, würde ich mir hinterher natürlich auf die Schulter klopfen – aber möglicherweise läuft es ja völlig anders, und ehe ich mir vorwerfen muss, dich mit patriotischen Parolen ins Unglück gestürzt zu haben, sage ich lieber: Tut mir leid, Kumpel, eine direkte Empfehlung wirst du nicht von mir hören!
    Walter, ich bin neugierig, wohin es für dich geht! Du hast ja noch ein knappes Jahr Zeit, es dir zu überlegen. Aber lass es mich dann bitte wissen und grüße mir auch meine drei zu Hause, Mum, Dad und Frances! Dein Freund Gary Shepard.

Drittes Buch
    HEIMKEHR
    (1941–1945)

18
    Wenigstens hatte es aufgehört zu regnen. In den Zweigen und an den Resten des bräunlichen, in sich verschlungenen Herbstlaubs knisterte und knackte es noch von den Wassermassen, die in den letzten Tagen auf uns niedergegangen waren, doch das Grab war, der jüdischen Tradition gemäß, an diesem Morgen erst ausgehoben worden. Ich verschwendete einen flüchtigen Gedanken daran, ob sie den Sarg tatsächlich in ein Wasserloch hinabgelassen hätten, wenn das Wetter weniger gnädig gewesen wäre, oder ob die Männer der Chewra Kadischa nicht auch für diese Eventualität eine kluge, diskrete Lösung parat gehabt hätten.
    In den vergangenen achtundvierzig Stunden hatte ich nicht anders gekonnt, als über die Ruhe und Angemessenheit zu staunen, mit der die »Begräbnisbruderschaft« der jüdischen Gemeinde das Kommen und Gehen des Mal’ach ha-Mawet, des Todesengels begleitete. Von den Gebeten am Sterbebett über die Totenwache, die Waschung und rituelle Reinigung bis hin zum symbolischen Säckchen Erde aus dem Heiligen Land hatten die Männer zügig, aber respektvoll für alles gesorgt, was für den Abschied vom irdischen Leben notwendig war.
    Noch am selben Abend waren zwei Frauen zu uns gekommen, um beim Nähen der Totenkleider zu helfen: Mütze, Hose, Hemd und Gürtel, ein Beffchen und ein Paar Socken, alles aus gewöhnlichem Leinen und einfach zugeschnitten. Über den Tisch hinweg die bedeckten Köpfe betrachtend, die sich im Schein der Wohnzimmerlampe über ihre Näharbeit beugten, hatte ich die liebevolle Aufmerksamkeit gespürt, mit der sie ihren Ehrendienst verrichteten, obwohl sie den Verstorbenen nicht einmal gekannt hatten. Ich selbst hatte die Mütze und den Gürtel genäht, von schönen und traurigen Erinnerungen erfüllt, aber auch von einem warmen, tröstlichen Gefühl der Zugehörigkeit.
    Und nun, da Matthew eine kurze, aber herzliche Würdigung des irdischen Wirkens des Verstorbenen gesprochen und der Kantor ihm ein letztes Schalom zugesungen hatte, da die Trauernden je drei Handvoll Erde auf den Sarg hinuntergeworfen und das Kaddisch gebetet hatten, hatte ich die Gewissheit, dass alles getan worden war für einen würdigen Abschied von Professor Julius Schueler, vierundsiebzig Jahre alt, aus München-Pasing.
    Ich würde eine Weile brauchen, um mich daran zu gewöhnen, ihn nicht mehr wie gewohnt in seinem Zimmer anzutreffen, den Blick erwartungsvoll auf mich gerichtet, sobald ich durch die Tür trat: »Meine junge Freundin! Was gibt es Neues in der Welt da draußen?« Professor Schueler hatte sich nichts aus Volksliedern gemacht, er hatte sich lieber unterhalten oder, wie er es nannte, »ins Leben eingemischt«. Dass er ans Bett gefesselt blieb und trotz täglicher Gymnastik schwächer wurde, stand in verblüffendem Gegensatz zu seinem Gesicht, das fröhlicher, lebhafter, jünger wurde, je länger seine Krankheit dauerte. Dieses letzte Jahr im Altenheim, vertraute er Amanda kurz vor seinem zweiten, tödlichen Schlaganfall an, sei das schönste gewesen seit 1933!
    Am Arm meiner Pflegemutter spazierte ich in Gedanken versunken zum Ausgang des Friedhofs, vorbei an schmucklosen Gräbern, auf denen sich lediglich kleine Steine sammelten. »Schade, dass es bei den

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