Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
Vom Netzwerk:
über den Krieg hatte reden hören.
    »Ich hoffe, du behältst Recht«, antwortete ich schon versöhnlicher. »Aber so einfach wie ein Diskussionszirkel ist es bestimmt nicht. Gary hat überhaupt nichts erzählt, als er hier war. Er war nur fürchterlich nervös und hat eine Zigarette nach der anderen gequalmt.«
    »Ich hatte mir ohnehin vorgenommen, ihm zu schreiben. Ich hoffe, er sagt mir ganz ehrlich, was er davon hält, dass ich Soldat werde!«
    Den Brief, den Walter knapp zwei Monate später von Gary erhielt, trug er ständig in der Brieftasche mit sich herum, die er sich von seinem ersten Lohn in der Fabrik gekauft hatte, und las ihn so oft, bis er ihn auswendig kannte. Der Brief wurde einer seiner kostbarsten Schätze, begleitete ihn nach Nordafrika, Sizilien und Norditalien, war vergilbt, zerknickt und mehrmals tropfnass geworden, aber immer noch lesbar, als Walter ihn nach Kriegsende Garys Eltern zurückgab.
    HMS Princess of Malta, 20. November 1940. Lieber Walter, sicher verstehst du, dass ich dir nicht sagen darf, wo wir uns befinden – nur so viel: Mein zweiter Atlantikwinter hat begonnen und schüttelt uns ganz schön durch. Auf der Princess of Malta ist es etwas besser als auf der kleineren Newcastle und sehr viel besser als auf den Handelsschiffen, wo die Matrosen praktisch gar nicht mehr trocken werden, und ich erwähne es nicht, um mich zu beschweren, sondern um meine Handschrift zu entschuldigen!
    Ich wollte zur See, seit ich denken kann. Sieh dir die Modellschiffe in Frances’ Zimmer an und du weißt Bescheid! Wann wurde der Kleinjungentraum konkret? Meine Eltern haben mich früh an den Gedanken gewöhnt, dass mir die Welt offensteht; allerdings hatten sie natürlich an etwas anderes gedacht als an die Marine, und bis ich etwa siebzehn war, gefiel mir die Aussicht auf eine Erweiterung des Bildungshorizonts eigentlich auch ganz gut. Die Ereignisse anderswo in Europa waren beunruhigend, doch auch irgendwie unbegreiflich und gingen mich nichts an – bis wir ein Kind aus Deutschland aufnahmen, meine Schwester Frances, die uns zum Hinschauen gebracht hat, gerade weil sie nichts erzählt hat, sondern bei uns einfach wieder »zu sich gekommen« ist. Für meine Eltern und mich war es verblüffend und großartig, das zu erleben.
    So hatte ich eigentlich zwei Beweggründe, mich bei der Navy zu bewerben: meine alte Liebe zur Seefahrt und das Hinschauen, das mir einen ganz neuen Gedanken in den Kopf gesetzt hat. Auf die Gefahr, dass du mich für übergeschnappt hältst, sage ich es dir trotzdem: Ich möchte dazu beitragen, dass die Welt »wieder zu sich kommt«!
    Nun brauchst du nicht zu glauben, dass ich die ganze Zeit, während ich hier an Bord bin, dieses hehre Ziel im Kopf habe. Wenn wir auf eins der »Wolfsrudel« stoßen, zu denen sich die deutschen U-Boote nun zusammenschließen … wenn Schiffe aus dem Konvoi getroffen werden, neben uns zu brennen und zu kippen beginnen und wir jeden Moment damit rechnen, einen Torpedo unter der Wasseroberfläche auf uns zusausen zu sehen … wenn wir an ertrinkenden Matrosen vorbei Jagd auf unsere Angreifer machen müssen, da der Konvoi auf keinen Fall gestoppt werden darf … dann habe auch ich die Hosen voll und nur einen einzigen Gedanken: Scheiße, Shepard, hoffentlich überlebst du das irgendwie!
    Oder wenn die Wellen über uns zusammenkrachen und wir tage- und nächtelang gegen den Sturm anfahren, ohne eine Minute zu schlafen … wenn einem alles egal wird, Leben wie Sterben, und man sich nur noch wünscht, dass es endlich vorbei ist … wenn man nach solchen endlosen Tagen wieder zum Denken kommt, dann denke auch ich: Was in aller Welt tust du eigentlich hier?
    22. November, abends. Walter, ich muss mich bedanken, dass du mich nach meiner Meinung gefragt hast! In den letzten Tagen war es wieder mal so weit, dass ich fast anfing, meine Entscheidung infrage zu stellen. Es ist nicht immer schön, über längere Zeit so dicht gedrängt in einer Mannschaft zu leben, das kann ich dir sagen! Aber vorgestern habe ich den Brief an dich begonnen und im Überlegen, wie ich dir am besten erklären kann, warum ich hier bin, ist es mir selbst noch einmal so richtig klar geworden.
    Würde ich jetzt abbrechen und nach Hause fahren wollen? Ganz bestimmt nicht! Wenn dieser Krieg erst gewonnen ist (und an etwas anderes will ich nicht glauben!), dann werden wir irgendwann vergessen haben, dass wir mal in Dreck und Kälte gesessen und gezittert haben. Wir werden

Weitere Kostenlose Bücher