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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Menschen ganz zu schweigen. Ein Attentat seiner eigenen Offiziere auf ihn schlug fehl, und anstatt des ersehnten Friedens wartete eine neue Bedrohung auf britische Zivilisten: ferngesteuerte Raketen, die jederzeit und ohne Vorwarnung, buchstäblich aus heiterem Himmel auf uns herabstürzen konnten. Die einzige Waffe dagegen war, nicht darüber nachzusinnen.
    Und dennoch begannen wir wieder zu planen, in die Zukunft zu denken. Die Verdunkelung wurde aufgehoben – eines Abends kamen Matthew und ich aus dem Elysée und standen einfach wieder im Licht, sprachlos vor Freude. Ich saß jeden Tag über meinen Büchern, um den verpassten Schulstoff nachzuholen, und zwei Nachmittage pro Woche half mir Mrs Collins. Sie hatte es von sich aus angeboten und ich nahm begeistert an.
    Mrs Collins war es auch, die mich auf einen neuen, faszinierenden Gedanken brachte. »Erinnert ihr euch an die Außenministerkonferenz im letzten Jahr?«, fragte ich Amanda und Matthew aufgeregt. »Wenn Molotov sprach, stand da jemand und übersetzte direkt ins Englische. Mrs Collins meint, ich könnte auch so etwas machen: Dolmetscherin für Deutsch und Englisch und vielleicht eine weitere Sprache, die ich auf dem College lernen könnte.«
    »Eine Menge junger Frauen gehen heutzutage aufs College!« Ich sah Amandas Gesicht aufleuchten, als die Idee sich offenbar genauso schnell festsetzte wie zuvor bei mir. »Es ist gar nicht mehr so ungewöhnlich wie zu unserer Zeit, Matthew.«
    »Du musst mich nicht davon überzeugen, Liebes. Frances als Dolmetscherin … das wäre die logische Konsequenz der letzten fünf Jahre, nicht wahr?«
    Eifrig fuhr ich fort: »Das College ist teuer, sagt Mrs Collins. Aber wenn ihr einverstanden seid, hilft sie mir, mich um ein Stipendium zu bemühen!«
    Nun waren es meine Pflegeeltern, die ein wenig aufgeregt wurden, sie sahen sich beinahe glücklich an, dann sagte Amanda: »Das wird nicht nötig sein. Wir haben seit Garys Geburt Geld für sein Studium zurückgelegt, jetzt liegt es ungenutzt auf der Bank, weil wir es nur für etwas wirklich Wichtiges ausgeben wollten. Etwas, das auch in seinem Sinne wäre …«
    »Das kommt nicht infrage«, sagte ich sofort. »Ich nehme kein Geld von euch.«
    »Du nimmst es nicht von uns, sondern von ihm. Du kannst es nicht ausschlagen, Schatz. Er war der Erste, der für dich übersetzt hat, hast du das vergessen?«
    Ich schüttelte stumm den Kopf. »Die gute Mrs Collins«, meinte Amanda und stand auf, um uns Tee nachzuschenken. »Das ist die beste Idee, die ich seit Langem gehört habe. Ich glaube, jetzt kann ich ihr sogar verzeihen, dass sie dich damals in die erste Klasse gesteckt hat.«
    »Ich bin so gespannt, was Walter dazu sagen wird!«, platzte ich heraus.
    Doch bevor ich es ihm mitteilen konnte, geschah etwas, das all diese wunderbaren Pläne überschattete und wieder in weite Ferne rücken ließ. Wie konnte ich ans College denken, an ein Leben im Frieden, wenn unsere schlimmsten Befürchtungen auf einen Schlag Wirklichkeit wurden? Am 23. Juli 1944 befreite die Rote Armee das polnische Vernichtungslager Majdanek. Was die Welt nicht zu Ende zu denken gewagt hatte, wurde ihr nun ins Gesicht geschleudert – in Bildern, die größeres Grauen vermuten ließen als alles, was wir uns bis zu diesem Tag hatten vorstellen können.
    »Es ist die Einwanderungsbehörde …«
    »Für mich …?« Zögernd nahm ich den Telefonhörer aus Amandas Hand. Jawohl, bestätigte ich, ich sei Ziska Mangold aus Berlin.
    Ob mir ein gewisser Erik Bechstein bekannt sei.
    Ein scharfer Schmerz bohrte sich in meinen Hinterkopf.
    Ja, Erik Bechstein kenne ich. Er ist mein Onkel. Mein Onkel Erik.
    Es dauerte einige Tage, bis wir ihn abholen konnten. Illegale Einwanderer wurden normalerweise ohne viel Federlesens zurückgeschickt, aber ein den Nazis entronnener, auf verschlungenen Pfaden nach England gelangter Jude durfte in den ersten Monaten nach Bekanntwerden der Vernichtungslager durchaus auf Großzügigkeit hoffen. Und wohin hätte man Onkel Erik auch zurückschicken sollen?
    »Du bekommst das Zimmer, in dem schon fast alle meine Freunde gewohnt haben«, sagte ich, als ich ihn die Treppe hinaufführte.
    Wir hatten noch nicht viel geredet, seit wir uns unvermittelt auf dem Behördenflur gegenübergestanden hatten. »Sie sind an einer sicheren Adresse«, waren Onkel Eriks erste Worte gewesen, der natürlich wusste, dass mich, seit ich den Anruf erhalten hatte, nur ein einziger Gedanke beschäftigte:

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