Liverpool Street
Warum war er allein? Wo war Mamu?
Beinahe hatte ich damit gerechnet, dass wir einander nach fünfeinhalb Jahren nicht wiedererkannten, doch ich hatte mich geirrt, wir fanden uns trotz der zahlreichen anderen Personen, die auf dem Behördenflur warteten, sofort. Onkel Erik war sichtlich erschrocken, als ich vor ihm stand – als hätte er geglaubt, nach all der Zeit eine zehnjährige Ziska anzutreffen! Er selbst hatte sich äußerlich kaum verändert, war nur etwas schmaler und so blass geworden, als hätte er seit Langem kein Tageslicht gesehen. Was, wie ich bald herausfand, stimmte.
Erst als ich ihn vorstellte, sah ich, dass er ein anderer war, dass der Mann, der Amanda und Matthew scheu die Hand reichte, keine Ähnlichkeit mehr hatte mit dem fröhlichen, unverwüstlichen Onkel meiner Kindheit. »… freue mich, Sie kennenzulernen«, murmelte er demütig und in stockendem Englisch. »Verzeihen Sie, dass ich hier bin.«
»Sie sind uns sehr willkommen, Herr Bechstein«, antwortete Matthew mit Nachdruck. Und Amanda hielt Onkel Eriks Hand ein wenig länger fest als nötig und sagte auf Jiddisch: »Endlich sind Sie hier! Es hat viel zu lange gedauert.«
Eine Stunde später stellte Onkel Erik seinen abgeschabten kleinen Koffer neben Garys Bett. »Schön«, sagte er, während er sich umsah.
»Dies sollte Bekkas Zimmer werden«, erwiderte ich, was – ich spürte es sofort – nicht die beste Idee war, denn schon sah Onkel Erik wieder aus, als wolle er anfangen zu weinen. »Evchen und Betti …«, begann er.
Das Entsetzen fuhr in mich wie eine heiße Klinge. Ich hatte so etwas noch nie erlebt; eine Vorahnung, die mich fast zu Boden warf. »Nein!«, flüsterte ich.
»Sie waren in einem Kloster in Belgien, keine zwei Kilometer von mir entfernt. Ich bin hingelaufen, gleich nachdem die Amerikaner unseren Ort befreit hatten. Niemand war mehr da, die Kinder nicht und auch nicht die Nonnen, die sie versteckt hatten. Sind schon im Frühjahr aufgeflogen und nach Mechelen gebracht worden, das belgische KZ.«
»Aber die Amerikaner …«
»Zu spät. Mechelen war geräumt.«
»Geräumt …?«
»Auschwitz. Gleich nach der Ankunft vergast, wie alle Kinder. Im Dorf wusste man schon Bescheid und hatte es nur nicht übers Herz gebracht, mir etwas zu sagen.«
Onkel Erik legte seinen Koffer aufs Bett und begann auszupacken. Ich stand reglos dabei, fast ohne Atem. »Und ihr?«, fragte er tonlos. »Viel Zerstörung draußen, wie ich sehe.«
»Gary ist tot. Mein … mein Bruder.«
Er blickte auf. Ich starrte zurück, völlig unvorbereitet darauf, dass ihn nach dem, was er mir gerade erzählt hatte, überhaupt noch etwas schockieren konnte. Er wies zur Tür hinaus. »Ihr Sohn …?« Ich nickte.
Mein Onkel griff sich erregt ans Kinn, ich hörte seine Bartstoppeln knistern. »Wie furchtbar. So etwas darf nicht passieren. Leute, die Juden helfen!«
»Sie sind selbst Juden, Onkel Erik.«
»Trotzdem. Ich muss ihnen sagen, wie leid es mir tut. Solch gute Gesichter! Du bekommst einen Blick für Gesichter, wenn du Jude bist, Ziska.«
Ich griff an ihm vorbei und klappte behutsam seinen Koffer zu. »Lass uns in den Garten gehen. Die Sonne scheint und Mum hat bestimmt den Tee fertig.«
»So nennst du sie … Mum?«
Ich errötete. »Es hat nichts mit Mamu zu tun«, begann ich, aber Onkel Erik schüttelte den Kopf.
»Schon gut. Es sind mehr als fünf Jahre. Auch du musstest überleben, nicht wahr?«
Erschrocken sah ich ihn an. Erschrocken, dass er verstand.
Eine sichere Adresse: Das war im Sommer 1942 das Einzige gewesen, worauf die Juden im besetzten Holland noch hoffen konnten. Eine sichere Adresse war mehr wert als aller Besitz, der den wenigsten von ihnen geblieben war, mehr als alte Freundschaften und Bindungen. Als meine Mutter eine sichere Adresse für sich selbst und ihre Schwester im Haus zweier alter Damen fand, war keine Zeit mehr zu verlieren: Tante Ruth und meine kleinen Kusinen hatten den Deportationsbescheid erhalten.
Frau Zaandvort, mit der Mamu Zwangsarbeit in einer Konservenfabrik leistete, hatte ihr aber auch noch etwas anderes besorgt: Kontakt zu einer Gruppe, die jüdische Kinder unter falschem Namen in belgischen Klöstern und Heimen versteckte. In derselben Nacht, in der Mamu und Tante Ruth bei den alten Damen untertauchten, die weder einen Mann noch zwei kleine Kinder hatten aufnehmen wollen, machte Onkel Erik sich auf den Weg, Evchen und Betti zur belgischen Grenze zu bringen.
Dort erlebte er eine
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