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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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sobald ich dem Posten am Bahnhof meine Nachricht überbracht hatte, würde ich nach Hause fahren dürfen.
    Das plötzliche dumpfe Poltern in meinem Rücken schreckte mich auf, noch während ich in die Bahnhofstraße einbog. Sofort dachte ich an einen Blindgänger, zog unter meinem Stahlhelm instinktiv den Kopf ein und trat in die Pedale, doch als ich mich umwandte, stockte mir der Atem: Ein riesiger, unförmiger Schatten senkte sich fünfzig Meter hinter mir ganz langsam, fast in Zeitlupe zu Boden und verschwand lautlos im Asphalt.
    Ich starrte mit offenem Mund. Ich muss mein Fahrrad über etliche Meter gelenkt haben, ohne nach vorne zu schauen, und obwohl ich sofort wusste, womit ich es zu tun hatte, wollte in meinem Bewusstsein einfach nicht ankommen, dass es mir tatsächlich nun passierte. In wenigen Sekunden würde es mich nicht mehr geben! Ich spürte keine Angst, nur eine große Überraschung, und fragte mich sogar bedauernd, was aus der Katze werden würde, die den Fallschirm mit der Luftmine offenbar ebenso wenig hatte herabschweben hören wie ich.
    Eine helle Lichtkugel schoss auf, meterhoch und blendend weiß, beinahe schön mit ihren zwei flirrenden, violetten und lavendelfarbenen Kreisen in der Mitte. Dann kam auch schon der Knall der Explosion und mit ihm ein markerschütterndes Grollen und Knurren, wie die Wut eines großen Hundes. Unerträglicher Schmerz spannte sich wie ein Seil zwischen meine Ohren, die Welt stand kopf, graue Schatten drehten sich, etwas Hartes, Metallenes kam auf mich zu … dann Dunkelheit.
    Doch wie angenehm es war, tot zu sein! Interessiert beobachtete ich, wie die Schwärze, die mich umgab, nach und nach einem bläulichen Licht wich. Etwas bewegte sich darin, ein Gesicht vielleicht? Bevor ich es erkennen konnte, war es auch schon verschwunden, eine schwere wohlige Müdigkeit befiel mich und ich kämpfte vergebens dagegen an, die Augen zu schließen. Als ich sie ein zweites Mal öffnete, kehrte auch das Gesicht zurück, tauchte lächelnd durch die bläuliche Nebelwand zu mir hinüber und mein Herz tat einen Sprung. Mum! Dass sie ebenfalls tot war, war eine gewisse Überraschung, aber sie hatte tatsächlich Wort gehalten und mich gefunden. Voll Vertrauen ließ ich meine Augen wieder zufallen. Wir waren endlich angekommen. Nun konnte uns nichts mehr geschehen.
    Das Öffnen und Schließen der Augen war wie ein Spiel: Jedes Mal offenbarte sich ein wenig mehr. Zuerst war da nur ein Gesicht, dann versuchte es Kontakt aufzunehmen und bewegte die Lippen, und schließlich fing ich an, Worte zu verstehen. Meinen Namen zum Beispiel, und dass ich keine Angst haben müsse, alles sei in Ordnung. Ich wollte antworten, das wüsste ich doch längst, aber es gelang mir nicht; ich würde wohl noch ein wenig warten müssen, bis meine Sprache sich an die neue Umgebung gewöhnt hatte.
    Zwischendurch meinte ich mitunter auch unbekannte Gesichter zu sehen, doch dann schloss ich einfach schnell die Augen. Sicher waren sie auf der Suche nach jemand anderem! Wenn fremde Hände nach mir griffen, versuchte ich so zu tun, als merkte ich es nicht, und tatsächlich, nach kurzer Zeit gaben sie auf und ließen mich in Ruhe.
    Als ich merkte, dass meine Stimme zurückgekehrt war, fragte ich: »Was ist passiert?«
    Dies bezog sich weniger auf mich als darauf, weshalb Amanda ebenfalls hier war, aber sie antwortete nur: »Eine Luftmine hat dich erwischt, meine Süße. Du hast ziemlich lange geschlafen.« Dann brach ihre Stimme und sie kämpfte mit den Tränen, was mich schwer erstaunte, denn hieß es nicht, dass es hier oben keine Tränen gäbe?
    »Geschlafen?« Schon schlich sich eine enttäuschende Gewissheit an. »Wir sind nicht tot?«
    »Himmel, nein«, murmelte Amanda schaudernd und diese zwei Worte machten alles zunichte. Plötzlich erkannte ich, dass ich in einem weißen Bett lag, um das ein Vorhang gezogen war, und dass mir bei der kleinsten Bewegung ein fürchterlicher Schmerz durch Kopf und Brust jagte, von dem ich bis eben nicht das Geringste gespürt hatte. Mindestens genauso schlimm aber war, dass in meinem linken, über und über mit blauen Flecken übersäten Arm eine Nadel an einem Plastikschlauch steckte! Mit einem Schreckenslaut riss ich beides heraus, und im nächsten Moment sprangen Fontänen roter Spritzer aus meinem Arm, die sich über das Bett, den Vorhang, Amanda und mich ergossen.
    »Schwester!«, schrie Amanda und hielt meinen Arm in die Höhe, bis jemand mit Kompressen gerannt kam und

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