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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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mich anbrüllte.
    Ich heulte: »Mum, Mum!«, denn sie sah aus, als sei sie in ein Massaker geraten, und dass es nicht ihr, sondern mein Blut war, das hier in Strömen floss, war mir zumindest nicht auf der Stelle klar.
    Anschließend hielten wir uns in den Armen und schluchzten, bis Amanda endlich mit der Wahrheit herausrückte. Mein Trommelfell war geplatzt, aber wiederhergestellt, ich hatte mehrere Rippen und den Schädel gebrochen und was ich für einen Schlaf von einigen Stunden gehalten hatte, hatte in Wirklichkeit fast sechs Wochen gedauert!
    »Sechs Wochen?«, hauchte ich ungläubig. »Dann haben wir …?«
    »Ende März«, sagte Amanda und ein Muskel zuckte in ihrem Gesicht, ein kurzes Aufflackern von Grauen. »Aber sei unbesorgt, du wirst wieder ganz gesund! Das ist wie ein kleines Wunder, meint der Arzt, und irgendeine Tapferkeitsmedaille bekommst du auch.«
    »So einfach ist das?«, wunderte ich mich. »Ich habe nicht mal meine Nachricht überbracht.«
    Amanda lachte vergnügt. Ich hatte schon beinahe vergessen, wie das klang. »Na und? Dieses Land braucht Helden, also halt still und nimm das Ding an!«
    »Und sonst?«, fragte ich ängstlich. »Gibt es etwas Neues?«
    »Nicht dass ich wüsste. Zu Hause stapeln sich Briefe von Walter, ich bringe sie dir morgen mit. Matthew wird ganz aus dem Häuschen sein, wenn er erfährt, dass du aufgewacht bist! Und Hazel fragt jeden Tag nach dir.«
    »Wann komme ich hier heraus?«
    »Nun, ein paar Tage wirst du schon noch bleiben müssen. Sie haben dich für alle möglichen Tests ausersehen – Schielen und Doppelsichtigkeit, oder ob du mit der kleinen Stahlplatte im Hinterkopf Radioprogramme empfangen kannst.«
    »Mum!«, rief ich entgeistert.
    »Entschuldige. Ich bin einfach so glücklich, Frances. So unglaublich glücklich!« Amanda wischte sich die Augen. »Und was deinen Kopf betrifft … nein, nimm die Finger weg! Ach, Liebes. Kein Grund zu weinen, die Haare wachsen doch wieder. Lass es dir von einer Frau sagen, die sich mit solchen Dingen auskennt …«
    Es wurde Mitte April, bis ich endlich nach Hause durfte, und Sommer, bis die Haare an meinem Hinterkopf wieder lang genug waren, um die hässliche violette Operationsnarbe zu bedecken. Immerhin blieben mir dumme Bemerkungen erspart; jedermann schien zu wissen, was passiert war. Die jüdische Gemeinde hatte regelmäßig für mich gebetet, und auch für meine Pflegeeltern, die bereits ein Kind an diesen Krieg verloren hatten.
    Was sich in Wahrheit während meiner Bewusstlosigkeit abgespielt hatte, wurde mir erst nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus klar. Ich erkannte es sofort an der Verwahrlosung des Gartens, an den zahlreichen, achtlos in die Regale zurückgestopften Büchern, aus denen Amanda mir vorgelesen hatte in der Hoffnung, dass ich dadurch aufwachte. Im Sekretär lagen zwei schmale Bände über Kopfverletzungen und Schädel-Hirn-Traumata, die sie und Matthew regelrecht durchgearbeitet hatten; da waren Zettel mit Notizen und Fragen an die Ärzte, sogar Prospekte einer privaten Spezialklinik. Anscheinend gab es nichts, was sie unversucht gelassen hätten, wenn es notwendig geworden wäre. Ich selbst mochte lieber nicht daran denken, was mir erspart geblieben war.
    Dennoch stellte sich bald heraus, dass ich nicht ganz so unversehrt davonkam, wie wir gehofft hatten. Ich wurde nun schnell müde und bekam es mit Schwindel und Kopfschmerzen zu tun, wenn ich keine Rücksicht darauf nahm. Nie wieder würde ich die Schnellste von allen sein, da mein Kopf die Erschütterung des Laufens nicht mehr vertrug, und im Freien musste ich ab sofort einen Hut tragen, um meinen Schädel vor der Sonne zu schützen.
    Gesund zu sein, war das Einzige, was in meinem Leben noch nie infrage gestanden hatte, und es fiel mir schwer zu akzeptieren, dass ich nun beeinträchtigt sein sollte. Hinzu kamen mehr als zwei Monate Schulunterricht, die ich verpasst hatte und die nicht ohne Weiteres aufzuholen waren. Seit Tail’s End war ich gern zur Schule gegangen, doch nun verlor ich mich verwirrt und verständnislos unter meinen Klassenkameraden, begann den Unterricht zu fürchten und wäre am liebsten zu Hause geblieben. Ich würde in den Ferien lernen und zum Schuljahrsbeginn eine Nachprüfung ablegen müssen, wenn ich das Jahr nicht wiederholen wollte.
    Natürlich versuchte ich mir zu sagen, dass all dies nicht viel bedeutete, wenn man sich vor Augen führte, dass ich beinahe gestorben wäre. Ich konnte zwar nicht mehr rennen,

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