Liverpool Street
aber doch normal gehen; ich war momentan keine gute Schülerin, aber mein Hirn hatte keinen Schaden genommen. Ich konnte sprechen, denken, fühlen, ich wurde geliebt, ich hatte kein Recht zu klagen! Leider wurde die Unzufriedenheit nicht dadurch weniger, dass ich mich dafür schalt.
Es war Matthew, der mich nach einigen Wochen mit in den Schuppen nahm und mir etwas zeigte, was dort unter einer Decke stand: ein verdrehtes, verbogenes Knäuel aus Metall und zerfetztem Gummi, in dem ich erst auf den zweiten Blick mein Fahrrad erkannte. »Du darfst traurig und enttäuscht und wütend sein, so viel du willst«, sagte er. »Aber wenn du es gar nicht mehr aushältst, komm einfach her und sieh dir das an.«
»Ich weiß schon. Ich will ja auch nicht undankbar sein, es ist nur …«
»Undankbar! Wofür solltest du dankbar sein? Dafür, dass jemand eine Mine auf dich geworfen und bloß nicht getroffen hat?«
Verdattert sah ich ihn an. »Ich wäre höllisch wütend«, meinte Matthew, eine für ihn so untypische Bemerkung, dass ich fast wieder lachen musste.
Ich sah ihm zu, wie er die Decke über das Fahrrad breitete. »Ein paar Dinge gibt es schon, für die ich dankbar bin«, sagte ich. »Dass ich bei euch sein darf zum Beispiel.«
»Auch das kannst du anders sehen. Wenn Hitler, verflucht sei sein Name, nicht Reichskanzler geworden wäre, hättest du deine eigenen Eltern noch.«
»Na schön. Aber dann wüsste ich nicht, dass ich Jüdin bin.«
»Das würde dann gar keine Rolle spielen. Ein Grund für Dankbarkeit ist es jedenfalls nicht.«
»Gut, und wie ist es damit: Ich wäre nicht ich !«
Matthew sah mich verschmitzt an. »Das ist in der Tat eine harte Nuss«, gab er zu. »Gib mir ein paar Tage, mir fällt bestimmt etwas ein!«
»Das bezweifle ich«, entgegnete ich und stellte fest, dass meine düstere Stimmung zumindest für heute Geschichte war.
Matthew hielt mir die Tür auf, wir traten ins Sonnenlicht zurück und ich gab ihm einen Kuss. Plötzlich lachte er nicht mehr. »Wir dachten, wir hätten dich verloren.«
»Das habt ihr nicht, und das werdet ihr auch nicht.«
Wir tauschten einen langen Blick – Frage, Antwort, noch mehr Fragen. Uns beiden war klar, dass wir nicht mehr über meinen Unfall sprachen. »Nun … das kannst du wohl noch nicht mit Sicherheit sagen«, meinte Matthew endlich.
»Doch, das kann ich. Ich habe mich entschieden.«
Er schien den Atem anzuhalten, antwortete nicht. »Ich werde meine Mutter immer lieben«, sagte ich. »Ich werde nicht aufhören zu hoffen und zu beten, dass ich sie wiederfinde. Aber es ändert nichts mehr. Mein Leben ist hier, bei euch.«
Wie einfach und klar es auf einmal war. Jahrelang hatte ich mich mit dieser Frage gequält, hatte mal so, mal anders gedacht und es dann doch wieder von mir geschoben. Nie war mir in den Sinn gekommen, mich zu entscheiden, bevor ich wusste, ob Mamu zurückkehrte – oder überhaupt selbst zu entscheiden! Stets hatte ich ihre Antwort, ihren Entschluss vorausgesetzt. Stets hatte ich beides gefürchtet.
Ihre Erlaubnis nicht abzuwarten, fühlte sich ziemlich verwegen an. Ich stellte mir vor, wie ich ihr gegenübertrat und sagte: »Mein altes Leben will ich nicht zurück, Mamu. Ich möchte, dass du an meinem neuen Leben teilnimmst, und dazu gehören nun einmal Amanda und Matthew.«
Aber an dieser Stelle setzte meine Fantasie aus, in meinem Magen begann es zu kitzeln und ich vermochte mir nicht auszumalen, was ihre Reaktion, ihr Stichwort für meine nächsten Sätze sein würde.
Ich wusste nur, dass dies das Einzige war, was ich ihr anzubieten hatte.
Im Mai gaben die Deutschen Montecassino auf und zogen sich nach Norden zurück, gefolgt von der 8. Armee. Der Sommer sah die alliierte Invasion der Normandie; innerhalb weniger Wochen befanden sich große Teile Frankreichs und Belgiens bereits in der Hand der Amerikaner, Briten und ihrer Verbündeten. Die Sowjets rückten nach Polen vor. Weitere deutsche Städte fielen in Trümmer, darunter Berlin, nach monatelangen Bombardements ein gespenstisches Gerippe aus toten Mauern und halb verschütteten Kellern, in denen hungernde, zerlumpte Menschen hausten.
Zu Hause beteten wir mit neuer Hoffnung um eine baldige deutsche Kapitulation. Dass der Krieg für Hitler verloren war, musste auch ihm längst klar sein. Doch er zog es vor, einen Tag nach dem anderen verstreichen zu lassen und die Verantwortung für weitere Tode auf sich zu nehmen, vom Eingriff in das Leben von Abermillionen
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