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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Überraschung. »Der Posten ist bestochen«, sagte ihm der Schleuser, ein freundlicher älterer Belgier namens Jospin. »Kommen Sie mit. Belgien tut alles, um seine Juden nicht auszuliefern. Wir finden auch für Sie ein Versteck.«
    An jeder Hand eine weinende Tochter, ging Onkel Erik spontan auf den Vorschlag ein. Zwar musste er die Mädchen sofort hinter der Grenze Herrn Jospin übergeben. Doch in seinem Versteck, dem Hinterraum eines Kartoffelkellers auf einem belgischen Bauernhof, konnte er jeden Morgen, jeden Mittag und jeden Abend ganz leise die Glocken des Klosters hören, in dem die beiden Unterschlupf gefunden hatten.
    Ich stellte mir die Vorfreude, die unerträgliche Anspannung vor, mit der er nach der Befreiung durch den Wald zum Kloster hinaufgerannt war – das erste Mal seit zwanzig Monaten, dass er die Sonne sah. Sein ungläubiges Entsetzen, als die letzten beiden alten Nonnen ihm unter Tränen berichteten, was im Frühjahr geschehen war.
    Onkel Erik verlor nicht viele Worte an etwas, wofür es keine Worte gab. Seine Erzählung setzte erst drei Wochen später wieder ein, als wäre alles, was dazwischenlag, ausgelöscht. Guillaume Jospin, erschüttert über den Verlust der Kinder, besorgte meinem Onkel eine Passage auf einem Boot, das ihn an die englische Küste brachte. Er hatte erwähnt, dass seine Nichte in London lebte.
    Ob er nicht daran gedacht habe, zu bleiben und auf die Befreiung von Tante Ruth und Mamu zu warten, fragte ich vorsichtig. Zwar war Holland noch in deutscher Hand, aber die Alliierten rückten von Woche zu Woche näher, standen schon vor Arnheim.
    Onkel Erik sah mich gequält an. »Und dann?«, fragte er. »Soll ich Ruth sagen, dass ich die Kinder verloren habe?«
    Doch es war tatsächlich diese eine Frage, die ihm ununterbrochen zusetzte, bis er nach wenigen Tagen zu dem Schluss kam, dass er einen großen Fehler gemacht hatte. Was tat er in England? Er musste so schnell wie möglich zurück, seine Frau finden!
    Mit Mühe überzeugten wir ihn, die Passage über den verminten Ärmelkanal erst dann wieder zu wagen, wenn auch Holland befreit war – eine Frage weniger Wochen, nahmen wir an. Leider hatten wir die Rechnung wieder einmal ohne die Deutschen gemacht. Je aussichtsloser die Lage, desto größer schien deren Entschlossenheit. Nicht nur schlugen sie die Briten vor Arnheim zurück, Hitler schickte seine Truppen sogar in eine neue Ardennenoffensive.
    Die Wochen vergingen, wurden zu Monaten. Onkel Erik lernte die Arbeit des Kinovorführers; wieder einmal gab das Elysée jemandem Beschäftigung, der zu mir gehörte. Im Frühjahr, als die Deutschen aus allen Ländern rings um Holland verschwunden waren, als die Rote Armee von Osten her Hunderttausende Flüchtlinge vor sich hertrieb, als Aachen als erste deutsche Stadt in die Hand der Amerikaner geriet und Montgomery auf Bremen und Hamburg vorrückte, warteten die Niederländer noch immer auf ihre Befreiung.
    »Dies ist mit Sicherheit der kälteste Winter, den ich je erlebt habe!«, sagte ich fröstelnd zu Walter, als wir uns auf den Weg in die Stadt machten.
    Die Ruinen am unteren Ende des Harrington Grove starrten anklagend, als wollten sie uns dafür verantwortlich machen, dass sie mehr als vier Jahre nach dem »Blitz« noch immer auf den Wiederaufbau warteten.
    Im Sommer waren Kinder zwischen den halb eingestürzten Treppen und in freiliegendem Gebälk herumgeklettert, hatten noch unversehrtes Mobiliar zusammengetragen und sich »Verstecke« eingerichtet. Nun standen die Mauern so kalt, grau und Unheil verkündend da, als wollte nie wieder ein Frühling kommen. Die Kurve mit dem Trümmerfeld, in dem ich ein Jahr zuvor beinahe gestorben war, verschwamm bereits in der anbrechenden Dunkelheit, als wir dort vorbeikamen. Jetzt, im Februar, hatte selbst das Tageslicht keine Lust, auch nur einen Augenblick länger zu verweilen als unbedingt nötig.
    Die Bahnhofstraße war wie ausgestorben, selbst die hartnäckigsten Schwarzmarktbenzinfahrer hatten offenbar das Handtuch geworfen und ihre Fahrzeuge aufgebockt. Zu Hause heizten wir nur noch die Küche und diskutierten darüber, den Baum im Vorgarten zu Kleinholz zu machen. Nachts nahmen wir in der Ofenglut angewärmte Ziegelsteine mit ins Bett, trugen Wollsocken und Schals und zitterten trotzdem. Und erst vor wenigen Tagen war ich morgens in den Schuppen gekommen und hatte Victory im Stroh gefunden, tot und tiefgefroren.
    »Ich glaube nicht, dass wir ein erfrorenes Huhn essen dürfen,

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