Liverpool Street
Schulabschlusses bewahrte sie meine Pflegeeltern und mich vor der Peinlichkeit, im Restaurant ein Gespräch bestreiten zu müssen, am Tag darauf nahm sie mich ins Gebet. Ich hatte bereits damit gerechnet, denn Hazel nahm ihre Pflichten als enge Vertraute sehr ernst und dass zwischen Amanda und mir ein Problem stand, hatte sie, wie sie behauptete, erkannt, sobald sie unser Kraftfeld betrat. Da Juden nicht an Kraftfelder glauben, hatte ich sie nie gebeten, dieses Phänomen zu erläutern, aber ich stellte mir einen Umkreis von etwa anderthalb Metern rund um eine Person vor und verstand, dass es zwischen Amandas und meinem Kraftfeld zurzeit heftig knallen musste, wenn wir an den Rändern aufeinandertrafen.
Mit ernstem Gesicht hörte Hazel zu, als ich meinem Herzen Luft machte. Ich erzählte ihr, was Amanda in Southend getan hatte, dass ich vor Entsetzen aus dem Eiscafé gerannt und bis zum Abend allein Strand und Pier auf und ab gelaufen war. Dass Matthew, anstatt sich zu mir zu bekennen, nur davon gesprochen hatte, wie schrecklich es für ihn und Amanda noch immer war, dass sie mit ihren Herkunftsfamilien hatten brechen müssen, um beisammenbleiben zu können.
Dass ich ihn einfach stehen gelassen hatte. Und am nächsten Tag hatte es in Strömen geregnet, sodass wir gleich nach dem Frühstück abreisten und ich meinen Spaziergang im Zug machen musste: stundenlang von vorne bis hinten und zurück, damit ich nicht etwa mit Leuten, mit denen ich fertig war, in einem Abteil sitzen musste.
»Well«, bemerkte Hazel, als ich geendet hatte. Sie zog das Wort in die Länge, dachte eine Minute nach und meinte dann: »Sie hätte es geschickter ausdrücken können.«
»Geschickter …? Sag mal, hast du mir überhaupt zugehört? Amanda hat mich aus der Tochterschaft entlassen, einfach so! Was macht es für einen Unterschied, wie sie es ausdrückt ?«
Wir saßen in der Vorabendsonne auf der Terrasse eines der Ruinengrundstücke im Harrington Grove, die so von Gras und Gestrüpp zugewuchert waren, dass sie langsam zu ihrem natürlichen Zustand zurückkehrten. Die Terrasse ließ nur noch andeutungsweise die Überreste einer Küche erkennen; ich fand den verwitterten Schaft eines Messers auf dem Boden neben mir und ritzte eine Kerbe in die Steine, während ich die Beine über den Mauerrand baumeln ließ.
Hazel lehnte an der Seitenwand. Sie rauchte seit Kurzem, was ich ziemlich gewöhnungsbedürftig fand. »Ich glaube nicht, dass Amanda dich entlassen hat«, überlegte sie. »Ich glaube, sie wollte nur sagen, dass du dich ihnen gegenüber nicht verpflichtet fühlen musst. Weiß sie, was du Gary versprochen hast?«
»Nein«, erwiderte ich mürrisch und stocherte mit meinem Messer herum.
»Was hast du eigentlich erwartet?«, bohrte Hazel. »Dass deine Mutter kommt und bei den Shepards einzieht, womöglich zusammen mit Onkel Erik und Walter?«
Ich kniff die Lippen zusammen. Am liebsten hätte ich gefragt, was denn daran verkehrt sei!
»Wach auf, Frances«, sagte meine Freundin nur. Und nach einigen Zigarettenzügen erkannte sie: »Dein Problem ist, dass du zwischen zwei Kapiteln schwebst. Das eine ist zu Ende, das nächste zögerst du anzufangen. Dabei brauchst du nur auf das übernächste zu schauen und die ganze Sache entscheidet sich von selbst.« Zufrieden blies sie ein Qualmwölkchen in meine Richtung. »Hör auf, dir um deine Mütter den Kopf zu zerbrechen – egal um welche. Deine Zukunft heißt weder Amanda noch Mamu, sondern Walter . Was sagt er eigentlich zu all dem?«
»Nicht viel. Das kommt noch hinzu. Er war dabei, als Onkel Erik meine Mutter aus Belsen geholt hat, aber er hat es nur ganz nebenher erwähnt. Wahrscheinlich war sie in einem so furchtbaren Zustand, dass nicht einmal Walter weiß, was er sagen soll.«
»Ist das nicht fast zwei Monate her? Langsam müsste es ihr doch besser gehen. Warum fährst du nicht in den Ferien nach Holland und triffst dich mit ihr?«
»Weil Onkel Erik schreibt, dass sie mich noch nicht sehen will. Weil ich vielleicht nicht nach England zurückdarf, wenn ich einmal ausgereist bin.« Der alte Messerschaft brach durch; ich warf ihn weit von mir ins Gestrüpp. »Meine Postkarte wird sie inzwischen bekommen haben, aber wahrscheinlich hat sie Recht zu schweigen. Sechseinhalb Jahre sind zu lang. Es ist einfach zu viel passiert. Nein«, erklärte ich mit Nachdruck. »Ich fahre nicht nach Holland. Wir würden uns gegenüberstehen wie Fremde. Es ist besser, alles bleibt, wie es
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