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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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sitzt … Schwamm drüber, heute sind die Schiffskarten für Shanghai gekommen, jetzt müssen sie ihn ja freilassen. Aber womit haben wir Tante Ruth verdient?
    Die Tür ging auf und Mamu kam herein. Sie sah ziemlich verzweifelt aus und ich bereute augenblicklich, Evchens Attacke auf mein Mathebuch abgewehrt zu haben. Wozu brauchte ich überhaupt noch ein Mathebuch? Meine Schule war seit der Pogromnacht geschlossen. Warum machte ich nicht einfach Ferien?
    Ich setzte mich zu Mamu auf die Matratze, auf der ich nachts zwischen den Betten meiner kleinen Kusinen schlief, und legte den Arm um sie. Vor einigen Tagen hatte sie ihren gesamten Schmuck an der öffentlichen Ankaufsstelle abliefern müssen, was sie, wie ich wusste, schwer traf.
    Zumal sie fast nichts dafür bekommen hatte. »Die Reichskornkammern sind voll mit geplündertem jüdischem Besitz, das verdirbt den Preis«, hatte sie bitter gesagt.
    »Es tut mir leid«, murmelte ich niedergeschlagen. »Ich versuche ja, mich zu beherrschen, aber wenn ich Evchen nur sehe, geht bei mir ein Schalter aus.«
    »Das Gefühl kenne ich.« Mamu legte den Kopf an meine Schulter. »Ach, Ziskele. Halten wir noch ein paar Tage durch, dann ist Papa wieder bei uns und wir können hier endlich verschwinden.«
    »Bist du denn ganz, ganz sicher, dass du diesmal alles beisammenhast?«
    Sie zählte mit gefurchter Stirn an den Fingern ab: »Die Pässe, die Kennkarten, die Ausreisegenehmigung, die Bescheinigung über die Reichsfluchtsteuer, die Schiffskarten. Beim letzten Mal haben sie mich nur deshalb wieder weggeschickt, weil ich nicht wusste, dass sie neben der Ausreisegenehmigung jetzt auch die Schiffskarten sehen wollen.« Sie sah mich besorgt an. »Da ist nichts, was sie jetzt noch sehen wollen könnten … oder?«
    »Nein, bestimmt nicht!«, versicherte ich hastig, obwohl die Bestimmungen sich ständig änderten und man es in der Regel erst mitbekam, wenn man an der Ziellinie wieder einmal abgewiesen wurde. Die arme Mamu war inzwischen so zermürbt von der täglichen Rennerei zu Behörden, Konsulaten und Reisebüros, dass sie mir bisweilen regelrecht verwirrt vorkam und ich ihr sagen musste, was als Nächstes zu tun war!
    Unsere drei Namen befanden sich mittlerweile nicht nur auf der Ausreiseliste nach Shanghai, sondern auch auf denen von Kuba, Argentinien, Palästina, Venezuela, Uruguay und Paraguay, von den USA, Schweden und England ganz zu schweigen. Mamu, die in den diversen Warteschlangen mit mehr Juden zusammengetroffen war als in ihren sämtlichen Lebensjahren davor, war von der allgemeinen Ansicht angesteckt worden, dass man auf so vielen Listen wie möglich stehen müsse, um auf Nummer sicher zu gehen. Durch die jüdische Gemeinde geisterte das Zauberwort von »der Quote«. »Die Quote« war in fast allen Ländern bereits auf Jahre übererfüllt, aber wenn unsere Nummern in acht bis zwölf Jahren an die Reihe kamen, stand uns gewissermaßen die Welt offen. Ich stellte mir die vielen Einladungen vor, die uns in Shanghai ins Haus flattern würden.
    »Versuche bitte, nicht zu streiten, während ich weg bin«, flehte meine Mutter mich an. »Diese Besuche bei der Gestapo kosten meine ganze Kraft. Da ist für Ruth nichts mehr übrig, wenn ich nach Hause komme.«
    »Ich gehe am besten zu Bekka«, sagte ich zerknirscht. »Dann muss ich die drei gar nicht erst sehen. Kannst du Tante Ruth nicht mal sagen, sie soll sich diese hässliche Warze über der Lippe wegmachen lassen?«
    »Ich ihr das sagen? Bist du verrückt?«, erwiderte Mamu, aber ihre Augen lächelten schon wieder.
    »Es würde sowieso nicht viel nützen. An Tante Ruth ist überhaupt nichts schön, finde ich. Es ist kaum zu glauben, dass ihr Schwestern seid.«
    »Das ist die Wurzel des Problems«, meinte Mamu. »Sie war immer schon neidisch auf mich.«
    In der Zimmerecke tat es einen Schlag, die Tür des Kleiderschranks flog gegen die Wand und in den zwei Sekunden, die sie brauchte, um mit Schwung wieder zuzuschlagen, kullerte wie eine rüschige Billardkugel meine Kusine Betti heraus. Sie war fünf, ein Jahr älter als Evchen, und hatte dasselbe dicke missmutige Gesicht, das nach ihrer gelungenen Spionageaktion nun von einer Mischung aus Triumph und Rachdurst verzerrt war. »Das sag ich, das sag ich!«, sang sie und tanzte an uns vorbei aus dem Zimmer.
    »Oh Gott«, murmelte Mamu, »auch das noch. Komm, Ziska, wir machen uns aus dem Staub!«
    Mit unterdrücktem Kichern griff ich nach meiner Jacke. Wir flohen aus der

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