Liverpool Street
nichts!«
Erwartungsvoll sah Bekka mich an. »In Pflegefamilien?«, echote ich. »Und deine Eltern?«
»Wir finden von England aus Arbeitsplätze für sie, dann dürfen sie nachkommen!«, erwiderte Bekka mit leuchtenden Augen. »Du kennst doch Silke Weinstein? Die ist schon dort und hat ihrer Mutter ein domestic permit besorgt!«
»Ein Mächtigpörmit! Nicht zu fassen!«, antwortete ich und versuchte Begeisterung in meine Stimme zu legen. Um nichts in der Welt hätte ich zugegeben, dass ich keine Ahnung hatte, wovon sie redete.
Nur eins war sehr klar und deutlich bei mir angekommen. »Du willst ohne deine Eltern nach England zu fremden Leuten?«, wiederholte ich entsetzt. »Man kann doch nicht ganz allein bei fremden Leuten wohnen!«
»Warum denn nicht? Ziska, die nehmen uns auf, einfach so! Die haben sich freiwillig gemeldet! Die sind bestimmt gut und nett und einfach wundervoll, und denk doch nur an die süßen kleinen Prinzessinnen in ihren Hermelinmänteln! Ich werde jeden Tag vor dem Palast stehen und sie mir angucken!«, schwärmte Bekka.
Ich hörte zu und gab mir alle Mühe, den Anschein zu erwecken, dass ich mich mit ihr freute. Aber die ganze Zeit ging mir nur ein einziger Gedanke durch den Kopf: Wenn Mamu mich alleine nach England schicken wollte, würde ich abhauen und mich so lange verstecken, bis der Zug ohne mich abgefahren war! Um nichts in der Welt würde ich ohne meine Eltern fahren! Bekkas begeisterte Schilderungen trieben mir fast die Tränen in die Augen, so leid tat sie mir.
Immerhin musste sie nicht sofort abreisen und würde noch Zeit genug haben, es sich zu überlegen. Vorerst hatten ihre Eltern nur die Namen von Bekka und Thomas registrieren lassen, und was das in punkto Wartezeit bedeuten konnte, wusste ich ja nur allzu gut.
»Bekka geht nach England«, sagte ich an diesem Abend, um meine Mutter davon abzulenken, dass sie trotz Vorlage der Schiffskarten meinen Vater nicht sofort hatte mitnehmen dürfen. »Auf einen Kindertransport. Nur mit Thomas und ohne ihre Eltern, ist das nicht schrecklich?«
»Ein Kindertransport?«, wiederholte Mamu. Sie hatte seit ihrer Rückkehr von der Gestapo nur schweigend vor sich hin gestarrt, aber jetzt hob sie den Kopf und ich fühlte mich ermutigt, ihr alles genau zu erklären. Selbst Tante Ruth und Onkel Erik hörten zu, obwohl meine Tante mir im Allgemeinen das Wort abschnitt, sobald ich nur den Mund aufmachte.
Es war einer der seltenen Tage, an denen Onkel Erik sich zum Abendessen nach Hause traute. Tante Ruths dicken, gemütlichen Ehemann bekamen wir kaum noch zu Gesicht, seit er sich in der Pogromnacht durch Hin- und Herfahren in öffentlichen Verkehrsmitteln vor der Verhaftung gerettet hatte. Nun besaß er eine Monatskarte und fuhr den ganzen Tag kreuz und quer durch Berlin, um nachts bei wechselnden Freunden unterzuschlüpfen. »Kindertransport … hm, davon habe ich auch schon gehört«, meinte er.
Ich genoss die ungeteilte Aufmerksamkeit und beantwortete viele Fragen: wo man sich anmelden konnte (bei der jüdischen Kultusgemeinde), wer für die Kosten aufkam (die eigens gegründete Kinder-Flüchtlingshilfe in England), wie viele Züge fuhren (ein bis zwei pro Woche im Wechsel aus verschiedenen großen Städten) und wie alt die mitfahrenden Kinder sein durften (mindestens vier, höchstens sechzehn). Ich war erstaunt, wie genau sie das alles wissen wollten. Als ich geendet hatte, herrschte längere Zeit Schweigen im Raum.
»Kann gut sein, dass das unsere einzige Möglichkeit ist«, sagte Onkel Erik schließlich.
Verständnislos sah ich von einem zum anderen.
»Evchen und Betti sind zu klein«, wisperte Tante Ruth. Ihr hageres, bleiches Gesicht schien auseinanderzufallen.
»Evchen ist vier«, murmelte Onkel Erik. »Es wäre also möglich.«
Wieder diese lange Stille. Allmählich spürte ich die Bedeutung seiner Worte in dem Teil meines Gehirns ankommen, der für die Kombinationen zuständig ist, aber ich weigerte mich einfach zu glauben, was ich da gerade gehört hatte.
Als Mamu mit einem Poltern ihren Stuhl nach hinten schob, fuhren wir alle zusammen. »Wir sollten das jeder für sich besprechen«, sagte sie. »Ziska, kommst du mal?«
Und im Hinausgehen tat sie etwas gänzlich Unerwartetes: Sie legte ihre Hand unter Tante Ruths Kinn und gab ihrer unausstehlichen Schwester einen Kuss!
Erst im Badezimmer fand ich meine Stimme wieder. Ich saß auf dem Klodeckel, Mamu auf dem Badewannenrand. »Die wollen die Kleinen mitschicken?«,
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