Liverpool Street
umgekippt, die Bilder von den Wänden gerissen. Die zerschmetterte Vitrine im Wohnzimmer, Mamus kostbares Porzellan, unser Pfand für Shanghai … auf dem Boden in tausend Stücken. Im Schlafzimmer meiner Eltern lagen Kleider und Bettzeug verstreut; alles war voll zarter weißer Federn, die sich an meine Schuhe hefteten.
Mein Zimmer. Seltsam, hier hatten sie nichts angerührt. Es musste genügt haben, dass ich – wie sie meinten – aus dem Fenster gestürzt war.
Rückwärts ging ich wieder hinaus, blieb benommen stehen. In der Mitte des Flurs war eine kleine Pfütze geronnenen Blutes, die Stelle, wo Papa zusammengeschlagen worden war. Rote Tropfen zogen eine Spur, ich folgte ihnen bis zur Wohnungstür. Erst dann fiel mein Blick auf die Wand. Neben dem Türpfosten, etwa in Höhe meines Gesichts, war ein blutiger Handabdruck, als ob sich Papa an der Stelle abgestützt hatte, um Halt zu finden.
Und diese Hand an der Wand war es, die mich schlagartig aus meiner Erstarrung befreite. Papa! Mamu! Ich stürzte zurück in mein Zimmer, zog mit fliegenden Händen irgendetwas an und rannte aus der Wohnung.
Als ich noch in Neukölln zur Schule gegangen war, hatte ich meinen Schulweg geliebt: all die Häuser, die zum Leben erwachten, die Geschäfte, deren Fensterläden sich öffneten wie Deckel einer Schatzkiste, der verheißungsvolle Geruch aus den Backstuben! Vor der Wildhandlung hingen im Winter Rehe, Fasanen und Hasen, der Fleischer bot uns ab und zu Wurstzipfel an, vor dem Bankhaus hielten Chauffeure in Livree schwarz gekleideten Herren die Wagentür auf. Einige Male war ich zu spät zum Unterricht gekommen, weil es unterwegs so viel zu gucken gab.
An dem Tag, an dem ich alle Gewissheiten verloren hatte, folgte ich meinem vertrauten Schulweg bis hinunter zur Bergstraße. Mamus bevorzugtes Einkaufsrevier, hier kannte man sie in vielen Läden, irgendwer würde sie schon gesehen haben. Ich fing beim Krämer an.
»Tag, Herr Manz, war meine Mutter heute schon hier?«
»Nein, Ziska, heute noch nicht.«
»Wenn sie kommt, sagen Sie ihr, dass ich sie suche?«
»Natürlich, Ziska, gerne!«
Im Hinausgehen spürte ich die Blicke der Kundinnen. Irrte ich mich oder hatte da jemand »Das arme Kind« gesagt? Worauf eine Frau schneidend antwortete: »Was wollen Sie? Das ist der Volkszorn, Frau Hinz. Wird Zeit, dass wir uns endlich wehren!«
Wehren? Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. Wahrscheinlich hatte ich mich getäuscht und es war bei dem Getuschel doch nicht um mich gegangen.
Keine fünfzig Meter weiter lag mein nächstes Ziel, der Feinkostladen der Schumanns. Schon von Weitem sah ich, wie die Leute einen großen Bogen darum machten, und als ich näher kam, erkannte ich auch weshalb: Die Straße war voller Scherben, das Schaufenster mit dem aufgemalten Judenstern eingeworfen, im Eingang standen zwei Nazis und rauchten. Bei ihrem Anblick wäre ich am liebsten wieder umgekehrt, aber die vorwärtshastenden Passanten trieben mich voran, am Laden vorbei. Aus den Augenwinkeln sah ich die beiden Schumanns mit Besen und Kehrschaufel hantieren und – von einem SA-Mann bewacht – aufräumen, was die Nazis kaputt geschlagen hatten. Zerbrochene Gläser und Flaschen lagen am Boden, zerbeulte Blechdosen schwammen in einer bunten Soße aus Marmelade, Gewürzen und Eingemachtem. Die Nazis ließen niemanden herein, um zu helfen.
Als ob es jemand gewagt hätte! Die Leute gingen genauso an dem Laden vorbei, wie ich es getan hatte: hastig, die Augen gesenkt, nur ein einziger schneller Blick flog hinein. Ich lief in der Menge mit, einen breiten Rücken vor, eine Schulter neben mir.
In der Nähe des Kurzwarengeschäfts ging man langsamer. Eine kleine Menschentraube hatte sich vor dem Loch im Schaufenster gebildet, Frauen starrten auf Garne, Scheren und Schnallen. Der kleine Laden schien unversehrt. Doch plötzlich griff eine zu, der Bann war gebrochen, es gab kein Halten mehr. Ich sah Garnrollen, Knöpfe, Fingerhüte durch die Luft fliegen, hörte es klirren und scheppern, als der Rest der Scheibe brach und in die Auslage fiel. Hände griffen über mich hinweg, ich taumelte an drängenden Leibern vorbei an den Straßenrand. Wie betäubt blieb ich stehen. Zu meinen Füßen flatterten schimpfende, schubsende, raffende Frauen wie eine Schar Tauben, die sich um Brotkrumen streiten. Zwei Jungen in HJ-Uniform lehnten an einer Laterne und lachten.
Dass wir nicht die einzigen Juden waren, die man in der Nacht überfallen hatte,
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