Liverpool Street
war mir längst klar geworden. Allmählich dämmerte mir auch, was das bedeutete: In der gesamten Bergstraße gab es vermutlich kein einziges unversehrtes jüdisches Geschäft mehr. Hier würde ich meine Mutter bestimmt nicht finden.
Und auf einmal kam mir der rettende Gedanke: Bekka! Die Liebichs! Natürlich! Wo sonst würde mich meine Mutter suchen, wenn nicht bei meiner besten Freundin?
»Ziska, endlich!« Sie zerrte mich in die Wohnung und drehte den Schlüssel um. »Wo warst du? Deine Mutter sucht dich überall!«
»Ich sie auch!« Dass ich mich den ganzen Morgen hinter Mülltonnen versteckt hatte, wollte ich Bekka lieber später erzählen. »Ich war auf der Bergstraße«, fügte ich hinzu.
»Mensch, bist du verrückt? Das kann doch jeden Moment wieder losgehen! Meine Mutter lässt mich heute überhaupt nicht raus.« Sie zog mich in ihr Zimmer, wir setzten uns aufs Bett und ich entdeckte, dass Bekkas Augen vom Weinen gerötet waren. »Sie sind in die Große Hamburger Straße gefahren. Sehen, ob sie die Männer rausholen können.«
»Die Männer …? Dein Vater auch …?«
Bekka kämpfte mit den Tränen und nickte. »Mein Vater und mein Bruder.«
Bekkas, mit Shirley-Temple-Postern beklebtes Zimmer drehte sich vor meinen Augen. Thomas, Bekkas fünfzehnjähriger Bruder, war der ganze Stolz der Familie, ein begabter Pianist.
»Es war schrecklich«, flüsterte Bekka. »Sie mussten sofort mitkommen, durften sich nicht einmal anziehen.«
»Haben sie sie zusammengeschlagen?«
»Nein!«, sagte Bekka mit schreckgeweiteten Augen.
»Eure Wohnung zertrümmert?«
Bekka schüttelte nur den Kopf. »Dann kannst du noch froh sein«, meinte ich.
»Sag mal, spinnst du?« Sie gab mir einen Schubs, dass ich beinahe vom Bett gefallen wäre. »Kommst hier rein und … und …«
»Wollen wir tauschen?«, fuhr ich auf.
Ich war selbst erschrocken, als ich mich das sagen hörte. Trotzig presste ich die Lippen aufeinander und starrte zu meinen Schuhspitzen hinunter. »In der Bergstraße ist alles voller Scherben«, sagte ich nach einer Weile.
»Hab ich gehört. Und überall in der Stadt sollen die Synagogen gebrannt haben.«
»Was? Die Synagogen? Alle?« Ich war entsetzt. Das also war das Feuer gewesen, das ich in der Nacht gesehen hatte. »Und was ist in der Hamburger Straße?«
»Das Gestapo-Gefängnis. Sie sind zu dritt hingefahren, deine und meine Mutter und Frau Grün. Sie haben Kleidung mitgenommen und irgendwelche Orden von deinem Vater.«
»Das hat letzte Nacht schon nichts genützt«, murmelte ich. »Ich glaube, das interessiert die überhaupt nicht, ob einer von uns mal für Deutschland gekämpft hat.«
»Ziska, was haben die mit uns vor?«, fragte Bekka ängstlich.
Es war die Frage, die sich alle stellten. Aber noch nie hatte ich gehört, dass jemand sie tatsächlich auszusprechen wagte. »Wir müssen hier raus«, sagte ich statt einer Antwort.
»Und wohin?« Bekkas Stimme klang müde und verzweifelt.
Ich sah sie überrascht an. »Na, aber … ihr geht doch nach Amerika!«
Bekka begann von Neuem zu weinen. Wild schüttelte sie den Kopf. »Gehen wir nicht. Ich wollte es dir schon die ganze Zeit sagen, aber … Papas Kusine hat uns abgeschrieben.«
»Wie, abgeschrieben?«
»Schon letzten Monat. Sie will nicht für uns alle bürgen müssen. Papa hat zurückgeschrieben, dass sie nur Thomas und mich rüberholen soll, aber das will sie auch nicht. Sie schreibt, die Familie zu trennen, wäre gegen göttliches Gesetz!«
Bekka schluchzte. Ich saß sprachlos da. Liebichs gingen nicht nach Amerika. Die ganze Englisch-Lernerei war umsonst gewesen.
Und plötzlich kam mir ein so wunderbarer Gedanke, dass ich alles andere um mich vergaß. »Bekka! Kommt doch mit nach Shanghai! Da braucht man kein Visum, nur die Schiffspassage! Wir könnten zusammenbleiben!«
»Meinst du?« Bekka hatte schon einen Schluckauf vom vielen Weinen, aber in ihren Augen glimmte wieder Hoffnung auf.
»Ganz bestimmt! Kein Visum, keine Bürgen! In China haben sie nichts gegen Juden!«, versicherte ich ihr aufgeregt. »Oh Bekka, stell dir nur mal vor: wir zwei in China!«
»Also, ich … ich kann ja mal mit meinen Eltern reden!«
Durch einen Schleier von Tränen konnte Bekka auf einmal wieder lächeln und man sah ihr an, dass es ihr peinlich war, überhaupt vor mir geheult zu haben.
Ihre Worte allerdings warfen uns wieder zurück auf die eine große Frage: Wo waren unsere Eltern? Wie mochte es ihnen in diesem Augenblick wohl
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