Liverpool Street
Tür. Die aufgeregten Worte »Sie sagen, du bist überhaupt nicht schön und hast diese hässliche Warze« begleiteten uns hinaus.
Der einzige Vorteil an unserem Arrangement mit Tante Ruth lag in meinen Augen darin, dass ich nun praktisch bei Bekka um die Ecke wohnte. Unter normalen Umständen hätte ich gefragt, ob ich nicht einfach bei ihr einziehen durfte, aber leider herrschte auch bei Bekka zu Hause eine sehr gedrückte Stimmung – nicht so aufgeladen wie bei uns, aber auch nicht besser, höchstens anders schlimm.
Als ich Mamu die wundervolle Idee unterbreitet hatte, dass Liebichs anstatt nach Amerika doch mit uns nach Shanghai fahren könnten, hatte sie mich nur traurig angesehen und gesagt: »Ziskele, wenn niemand die Reisekosten für die Liebichs übernimmt, können sie überhaupt nirgends hin. Bekkas Vater hat schon gleich nach der Machtergreifung der Nazis seine Arbeit auf dem Rathaus verloren. Das war vor fast sechs Jahren, ihre Ersparnisse sind inzwischen aufgebraucht. Sag es nicht weiter, aber sie sind schon in der Suppenküche gesehen worden.«
»Dann müssen wir ihnen etwas leihen!«, bestimmte ich.
»Wir?«, erwiderte Mamu gedehnt. »So viel haben wir auch wieder nicht, dass es für uns alle reicht.«
»Aber was sollen sie denn sonst tun?«, rief ich entsetzt.
»Es gibt da noch andere Möglichkeiten, Ziska. Es ist besser, wenn wir nicht darüber sprechen, aber ich könnte mir vorstellen, dass sie etwas geplant haben.«
Etwas geplant? Sosehr ich meine Mutter bedrängte, sie verriet nichts, und mehr noch: Auf keinen Fall, so beschwor sie mich, dürfe ich Bekka oder irgendjemanden danach fragen. Ich konnte Mamu ansehen, dass sie es bedauerte, mir überhaupt so viel verraten zu haben.
Ich hielt mich an ihr Verbot, aber meine Fantasie arbeitete auf Hochtouren. Was konnten Liebichs geplant haben? Reichte ihr Geld für eine Flucht in ein näher gelegenes Land? Wollten sie sich über eine der europäischen Grenzen schmuggeln lassen? Wollten sie gar … untertauchen?
Ein Schauer durchlief mich, eine Mischung aus Schreck und Neid. Ich hatte von einigen Leuten gehört, die einfach verschwunden waren, als die Nazis sie verhaften wollten. Untertauchen … allein das Wort hatte schon so einen verheißungsvollen Klang! Ja, je mehr ich darüber nachdachte, desto überzeugter war ich, dass Liebichs jeden Augenblick untertauchen konnten. Dass ich Bekka nicht danach fragen durfte, leuchtete mir ein. Es wäre ja gar kein richtiges Untertauchen mehr gewesen, wenn andere davon gewusst hätten!
Wie jeden Tag fragte ich mich, ob sie überhaupt noch da waren, als ich um die Ecke zu ihrem Häuserblock lief. Aber Bekka öffnete sofort die Tür, nachdem ich leise ein bestimmtes Klopfzeichen gemacht und »Hier ist Ziska!« gerufen hatte. Normales Anklopfen oder Klingeln vermied man inzwischen lieber, wenn man den anderen nicht zu Tode erschrecken wollte.
»Unsere Schiffskarten sind endlich gekommen, Mamu ist schon auf dem Weg zur Gestapo. Heute in einer Woche …«, sprudelte ich hervor.
Ich brach ab. Selbst wenn Liebichs möglicherweise etwas viel Aufregenderes geplant hatten als wir, verspürte ich doch eine unbestimmte Scheu Bekka gegenüber, seit ich wusste, dass sie im Gegensatz zu uns nicht genug Geld besaßen, um sich auf regulärem Wege in Sicherheit zu bringen. Es fühlte sich seltsam an, ihr von unserer bevorstehenden Abreise zu erzählen – als ob ich sie im Stich ließe. Bekka selbst hatte das Thema nie wieder angeschnitten, seit wir einen einzigen kurzen Nachmittag gemeinsame Zukunftspläne geschmiedet hatten.
Heute jedoch erlebte ich eine Überraschung. Ein erleichtertes, strahlendes Lächeln erhellte Bekkas Gesicht, ein Lächeln, wie ich es schon lange nicht mehr gesehen hatte, und sie zog mich in ihr Zimmer. »Ziska!«, sagte sie feierlich. »Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?«
Ich bekam einen heißen Schreck. »Bist du wohl still! Das mit dem Untertauchen darfst du nicht verraten!«, entfuhr es mir.
»Untertauchen? Wovon redest du?« Aber Bekka nahm sich nicht die Zeit, mich antworten zu lassen. »Stell dir vor, Thomas und ich fahren nach England!«, sagte sie mit einem kleinen Glucksen in der Stimme.
»Nach England? Thomas und du?«
»Mit einem Kindertransport! Vati hat auf der jüdischen Kultusgemeinde davon erfahren. Sie haben schon Hunderte von Kindern rausgebracht, aus Berlin, aus Wien, aus München! Wir werden in Pflegefamilien wohnen, das kostet uns
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