Liverpool Street
ergehen?
Die Frauen kamen nicht allein zurück. Sie hatten Herrn Liebich und Thomas dabei, und beiden konnte man ansehen, was sie überstanden hatten. Thomas’ linke Gesichtshälfte war rot und geschwollen; man hatte ihn wieder und wieder geohrfeigt. Herr Liebich hielt einen Arm umklammert und biss mit schweißfeuchter Stirn die Zähne zusammen. »Gebrochen«, sagte er nur. Mit bebender Stimme telefonierte seine Frau herum, um einen Arzt zu finden, der bereit war, Juden zu behandeln. Unser Familiendoktor, Dr. Fruchtmann, saß noch in der Großen Hamburger Straße, genau wie mein Vater und Herr Grün.
Ich war so froh, meine Mutter zu sehen, dass ich sie mit meiner Umarmung beinahe umwarf. Unser Streit war wie ausgelöscht, nie da gewesen. Sie schloss mich in die Arme. »Ziska, mein Ziskele«, murmelte sie zärtlich in mein Haar.
Ich drückte mich an sie, spürte die Wärme ihrer Haut … und war mit einem Mal durchströmt von so viel Glück und Mut, so viel nie gekannter Kraft, dass die Schrecken der letzten Nacht bereits zu verblassen begannen.
Mamu und ich hatten uns wieder, wir hatten das Schlimmste überstanden, alles würde gut werden! Wenn Thomas und Herr Liebich nach nur einem halben Tag freigelassen worden waren, dann durften wir vielleicht morgen schon meinen Vater mitnehmen. Bei all den vielen Männern, die sie verhaftet hatten, durfte man ja nicht erwarten, dass sie innerhalb nur weniger Stunden Papas Unschuld feststellen konnten!
Bis mein Vater nach Hause kam, würden Mamu und ich die Wohnung aufgeräumt haben. Ich würde die zerrissenen Akten kleben, alle seine Bücher sortieren; er würde gar nicht merken, dass jemand Hand daran gelegt hatte! Was vom Mobiliar nicht mehr zu retten war, würden wir einfach wegwerfen … wir hätten ja ohnehin nicht viel nach Shanghai mitnehmen können.
Wir waren zusammen, das war alles, was zählte. Und wir würden uns nie wieder trennen, so viel stand fest.
4
Evchens plumpes weißes Gesicht, in dem wie immer ein klein wenig Rotz unterhalb der Nase klebte, verzog sich zum Weinen, als ich ihr den Bleistift aus den dicken heißen Fingern wand und drohte, wenn sie noch einmal damit in meinen Büchern herummalte, würde ich ihn ihr mitten ins Auge stechen.
Sie holte tief Luft und presste die Lippen zum »Mm« zusammen. »Und wenn du jetzt vorhast, Mama zu schreien, kriegst du ihn gleich in den Hals!«, sagte ich grob.
»Mama!«, kreischte Evchen und fegte wie ein fetter, triumphierender Zwerg an mir vorbei aus dem Kinderzimmer. »Die Ziska hat mich wieder gedroht!«
Ich rollte die Augen. Als die Stimmen aus dem Wohnzimmer laut wurden, konnte ich mitsprechen, so oft hatte ich diese Leier in den letzten Wochen schon gehört.
»Margot, wenn du nicht endlich dafür sorgst, dass deine Tochter die Kleinen zufrieden lässt, dann tut es mir leid, dann müsst ihr hier verschwinden! Mit diesem Kind stimmt doch etwas nicht!«
»Wenn du es schaffen könntest, die Kleinen mal ein paar Stunden zu beschäftigen, damit Ziska in Ruhe in dem Zimmer arbeiten kann …«
»Im Zimmer der Kleinen, wohlgemerkt! Ich habe euch aus reiner Menschenliebe hier aufgenommen, aber das ist immer noch meine Wohnung und wenn Evchen in ihr Zimmer gehen will, dann denke ich überhaupt nicht daran, sie zu hindern!«
Ich drückte mir beide Zeigefinger in die Ohren, um nicht mit anhören zu müssen, wie Mamu und ihre Schwester sich gegenseitig in Schwingung brachten. Wir lebten seit genau neunundzwanzig Tagen unter einem Dach und es war nur eine Frage der Zeit, wann diese unschuldigen vier Wände ihren ersten Mord erleben würden. In mir keimte allmählich der Verdacht auf, dass die Nazis genau dies beabsichtigt hatten, als sie uns die Wohnung wegnahmen. Wahrscheinlich hatte einer der Klügeren die Idee gehabt: »Sollen sie doch zu ihren Verwandten ziehen, dann machen sie sich gegenseitig fertig und nehmen uns die Arbeit ab.«
So konnte man sich jedenfalls nicht auf Mathematik konzentrieren. Ich seufzte und nahm die Finger wieder aus den Ohren, um festzustellen, an welchem Teil ihrer Auseinandersetzung sie inzwischen angekommen waren.
»Von Dankbarkeit rede ich ja schon gar nicht mehr! Als ob du je etwas für mich getan hättest!«, schrie meine Tante.
Oh Jesus, dachte ich verzweifelt. Dass die Wohnung weg ist, ist ja halb so schlimm, selbst wenn es mich ein wenig anficht, dass sie uns erst rausgeschmissen haben, nachdem wir mit Aufräumen fertig waren. Dass Papa noch immer in Sachsenhausen
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