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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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über die Winterbottoms gemacht, das Ehepaar, das in London auf mein Kommen wartete und mit einer nicht unbeträchtlichen Summe dafür bürgte, dass ich dem englischen Staat nicht zur Last fiel. Wer waren sie? Wieso taten sie das alles für ein völlig fremdes Kind? Konnte es sein, dass sie im Gegenzug auch etwas von mir erwarteten – und wenn ja, was?
    Je näher unsere erste Begegnung rückte, desto nervöser wurde ich. Während wir nach dem Anlegen der Fähre in Harwich stundenlang auf die ärztliche Untersuchung und die neuerliche Pass- und Zollkontrolle warteten, besetzten die Winterbottoms bereits sämtliche denkenden Windungen in meinem Kopf. Meine ersten Eindrücke von England – eine flache graue Küste, viereckige, in die Landschaft gestreute Häuser, düstere Hafenbaracken im Nieselregen – verblassten vor anderen, bangen Fragen: Hatten die Winterbottoms Mamus und meinen Brief rechtzeitig erhalten oder wussten sie ebenso wenig von mir wie ich von ihnen? Wie würde unser unauslöschlicher erster Eindruck voneinander sein? Würden wir uns verständigen können?
    Überhaupt: Wer stellte eigentlich die Kinder und Pflegeeltern zusammen? Wer bestimmte, wer zusammenpasste, und woher wollten sie das wissen? Die ganze Sache schien mir plötzlich so unsicher und gefährlich wie russisches Roulette, und verstohlen berührte ich das kleine Kreuz an meinem Hals. Jesus, wenn du mich gerade hörst, sorg doch bitte dafür, dass die Winterbottoms mich mögen … und wenn es nicht zu spät ist, etwas in der Richtung zu unternehmen, lass sie die wundervollen Leute sein, von denen Bekka gesprochen hat …
    Ich hatte ein etwas schlechtes Gewissen, weil ich immer nur betete, wenn ich etwas von Jesus wollte, zumal ich ja nicht einmal mehr hundertprozentig sicher sein konnte, dass er überhaupt für mich zuständig war. Als ich noch evangelisch hatte sein dürfen, war mir erklärt worden: »Jesus ist immer bei dir und liebt dich, wie du bist«, aber war das automatisch vorbei, wenn man aus dem Religionsunterricht herausflog? Musste nicht Jesus, wenn er bis dahin bei mir gewesen war, selbst am besten wissen, dass ich nicht richtig jüdisch war?
    Ja, wenn es überhaupt jemanden gab, der das wusste, dann war es Jesus!
    Und dann war er bestimmt auch jetzt noch für mich da, als unser Zug in eine riesige, lichtdurchflutete, von Säulen gestützte Halle einfuhr: Liverpool Street Station , London. In ordentlichen Viererreihen schritten wir durch einen kleinen Triumphbogen im Durchgang zur Haupthalle, durchquerten den Bahnhof und fanden uns in einer Art Lagerhalle wieder, die durch ein Seil in zwei Hälften geteilt war. An mehreren Tischen hatten bereits die freundlichen, eleganten Damen des Ortskomitees der jüdischen Flüchtlingshilfe Platz genommen, um uns zu registrieren und den richtigen Personen zu übergeben. So standen auf der einen Seite der Halle Bänke, die uns zum Sitzen zugewiesen wurden, auf der anderen Seite war eine bunte Menschenmenge zusammengewürfelt, die bei unserem Eintreten in erwartungsvolles Murmeln ausbrach.
    Unsere künftigen Pflegeeltern! Die meisten reckten den Hals und lächelten oder winkten zu uns hinüber, und auch auf unserer Seite setzte sofort ein Flüstern, ein Anstoßen und Rätselraten ein. Ich beneidete den großen Teil derer, die zu ihren eigenen Verwandten fuhren und sich die Sorgen sparen konnten. Walter Glücklich war gleich am Bahnsteig von seinem Vater in Empfang genommen worden, ich hatte noch einen kurzen Blick auf die beiden erhascht, dann wurden sie von der Menge verschluckt und ich im Strom der Kinder weitergetrieben. Greta, Vera und eine größere Gruppe, in der ich auch Thomas Liebich gesehen hatte, waren bereits in Harwich in einen Bus gestiegen, der sie an einen Ort namens Dovercourt bringen sollte: ein Sammellager für diejenigen, die noch keine feste Adresse in England hatten.
    Mit bangem Herzen versuchte ich von meinem Platz aus über die Tische hinwegzuspähen. Wer waren die Winterbottoms – die älteren, freundlich aussehenden Herrschaften mit den identischen weißen Hüten oder das junge, schlicht gekleidete Paar, das zwei eigene Kinder an der Hand hielt? Hoffentlich nicht die beiden in den roten Pelzen, denen halbe Füchse rechts und links über die Schultern baumelten!
    Der Lärm in der Halle schwoll an, sobald die Erwachsenen zu uns hinüberdurften. Verwandte riefen sich Grüße zu, andere die Namen der ihnen zugewiesenen, noch unbekannten Kinder – oder

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