Liverpool Street
zumindest das, was sie dafür hielten! Ich sah, wie »Frrridrrrick«, »Mänjuel« und »Görrrda« sich zögernd angesprochen fühlten, während das »Biti, Biti!« wiederholende Paar sich erst nach längerem Hin- und Hereilen mit einer verdutzten Beate zusammenfand. Auch mir wurden diverse Laute fragend ins Gesicht geworfen, doch sosehr ich mich auch anstrengte: Ich hörte nichts, was im Entferntesten nach Franziska klang. In meiner Verzweiflung stellte ich mich schließlich sogar auf die Holzbank, um mich sichtbarer zu machen. Aber das hatte nur zur Folge, dass überhaupt niemand mehr auf mich achtete.
Meine Ankunft in England begann damit, dass meine Pflegeeltern es sich anders überlegten. Ich stand auf meiner Bank, den Blick starr auf die Tür gerichtet, durch die noch einige Verspätete eintrafen; ich sah ein Kind nach dem anderen mit seinen Engländern durch dieselbe Tür verschwinden und die Halle sich leeren. Wer sich nicht blicken ließ, waren Marcus und Hermione Winterbottom.
»Setz dich doch zu den anderen, Franziska«, sagte Marita.
Erst als sie mich ansprach, wurde mir bewusst, dass alle zu mir hinstarrten. Die Damen vom Komitee, unsere Betreuer, die sich um einen Tisch versammelt hatten, um einige letzte Fragen zu klären, bevor sie sich auf den Rückweg nach Deutschland machen mussten. Und natürlich die anderen Kinder.
Es waren drei, ein Mädchen und zwei Jungen, die als Einzige noch mit mir warteten. Mit unseren Bündeln und Koffern, das schon ziemlich zerdrückte Pappschild um den Hals, standen und saßen wir weit voneinander entfernt und Marita hatte natürlich Recht: Wir hätten uns längst zusammensetzen können. Aber jeder von uns wäre wohl lieber gestorben, als diesen Schritt zu tun. Die anderen sind übrig geblieben, aber ich gehöre nicht dazu! Meine Leute kommen bestimmt jeden Moment durch die Tür …
»Komm doch wenigstens herunter von der Bank«, schlug Marita vor.
Mit glühenden Wangen sprang ich auf den Boden, erfüllt von Schmach und der dumpfen, erschrockenen Leere des Verlusts. Ich war übrig geblieben. Niemand da, der auf mich wartete. Ich hatte noch nie davon gehört, dass man vom Rand der Erde herunterplumpsen konnte, aber genau das war das Gefühl, mit dem ich wieder auf dem Boden der Bahnhofshalle landete.
Für eine zwar kurze, aber intensive Zeit waren die Winterbottoms meine Zukunft gewesen, das einzig Wirkliche in einem Nebel von Vielleicht, mein einziger Verlass. Nun hatte ich auch sie verloren. Womöglich war ihnen mein Brief zu kurz gewesen, oder Mamu und Onkel Erik hatten eine wichtige Vokabel verwechselt. Womöglich hatten sie an diesem Morgen einfach gemerkt, dass sie lieber jemanden aus Wien oder Prag aufnehmen wollten. Womöglich waren sie hier gewesen, hatten einen Blick auf mich geworfen und waren wieder gegangen.
Ich würde es nie erfahren. Mit Sicherheit wusste ich nur eins: Bekka wäre bestimmt nicht sitzen gelassen worden.
6
Drei Wochen nach der Ankunft in London bildete ich mir ein, dass man eigens für uns Kinder einen neuen Planeten erschaffen hatte, der vom richtigen Leben ziemlich weit entfernt war. Nicht einmal der Name des Planeten passte in unseren Mund: Satterthwaite Hall. Wir teilten ihn mit den Bewohnern eines Pflegeheims im Hauptflügel des Gebäudes, die wir kaum je zu Gesicht bekamen. Ab und zu saßen einige von ihnen bewegungslos im Rollstuhl auf der Terrasse, wenn wir nachmittags nach dem Englischunterricht in den Park durften.
Was uns und die anderen einte, war, dass wir nicht hinauskonnten: Satterthwaite Hall , ein verwunschenes kleines Schloss mit vielen Türmchen und Giebeln aus grauem Backstein, war rundum von einer etwa zwei Meter hohen Mauer umschlossen. Hinter der Mauer lag England, wir hörten seinen Lärm und rochen seinen Dreck, erahnten manchmal sogar die Schritte von Fußgängern auf der anderen Seite. Doch je länger ich hier war, desto weniger konnte ich mir vorstellen, dass es tatsächlich ein »Draußen« gab.
Jeden Nachmittag streifte ich an der Mauer entlang, nach rechts, nach links und rundherum, und vermisste Bekka, wie ich noch nie einen Menschen vermisst hatte. In Satterthwaite Hall brauchte man eine Freundin – um über das komische Essen zu lachen, wie diese Frühstückspampe namens »Porridge« oder den bitteren Tee, in den sie Milch schütteten! Um uns gegenseitig die Englischvokabeln abzuhören, um die Begegnung mit den Ehepaaren zu überstehen, die sich Kinder aussuchen kamen, um uns die Briefe
Weitere Kostenlose Bücher