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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Wort, und auch meine Berichte aus Satterthwaite Hall kommentierte sie kaum. Was hätte sie, die mit der Überwindung echter Katastrophen beschäftigt war, auch groß sagen sollen zu der Problematik schlechter Träume? Ich selbst wusste mittlerweile kaum noch, was ich nach Hause schreiben sollte, außer dass ich meine Eltern vermisste und dringend darauf wartete, aus Satterthwaite Hall herauszukommen.
    Bekka wäre längst nicht mehr hier, dachte ich verzweifelt. Bekka hätte längst Arbeit für ihre Eltern gefunden. Bekka würde mich auslachen, wenn sie mich jetzt sehen könnte. Hab ich’s doch gewusst. Ziska schafft das nicht. Und so was nimmt mir den Platz weg!
    Der 19. Februar, mein Geburtstag, rückte näher und ich erzählte niemandem davon. Vom Geburtstag reden, hieß eine Wunde offenlegen, hieß aussprechen und zugeben, dass ich an diesem Tag allein war, immer noch ohne Zuhause und mit nichts als einem großen Fragezeichen über dem kommenden, dem zwölften Lebensjahr. Ohnehin ließ nichts, was ich seit meiner Abreise erlebt hatte, in mir den Wunsch aufkommen, mich feiern zu lassen. Ziska und ein Fest, das passte nicht mehr zusammen.
    Dass es dennoch mein Geburtstag war, an dem sich mein Leben schlagartig änderte, konnte nur bedeuten, dass Jesus – der Einzige, der davon wusste – mich trotz der Pleite mit den Winterbottoms und der Schmach meiner Sonntage nicht vergessen hatte!
    Aber auch Bekka war nicht unbeteiligt, denn an diesem Morgen wachte ich statt mit der üblichen Niedergeschlagenheit mit einer einzigen klugen Frage auf: Was genau würde Bekka eigentlich tun , wenn sie an meiner Stelle wäre?
    Und die Antwort stand plötzlich so klar vor mir, dass mein Herz vor Aufregung zu trommeln begann: Wenn die Engländer mich ständig übersahen, musste ich mir eben selbst eine Familie suchen!
    Genau das war es, was Bekka getan hätte.
    Der Pförtner von Satterthwaite Hall war ein knorriger älterer Mann, dem wir lieber aus dem Weg gingen, denn er war sichtlich nicht begeistert, seit Kurzem auch noch ein Flüchtlingsheim zu beherbergen. Jeden Sonntag um kurz nach zwei sperrte er das große Eisentor auf, das hinaus auf die Straße führte, und hoffte genau wie wir, dass wir weniger wurden.
    Mit dem Schlüssel in der Hand stapfte er anschließend zurück zum Haus, vorbei an den Kompostkübeln neben der Mauer, die er keines Blickes würdigte. Wie hätte er auch wissen sollen, dass dahinter ein Kind hockte – ein Kind mit einem Plan ? Entschlossen huschte ich in seinem Rücken an der Mauer entlang, schlüpfte durch das Tor … und war in England!
    Was ich erwartet hatte, wusste ich selbst nicht genau, deshalb war der Anblick auch nur eine geringfügige Enttäuschung. Ich stand in einer wenig belebten Seitenstraße, links und rechts von mir war die Mauer, am Straßenrand parkten zahlreiche Autos. Direkt gegenüber befand sich ein Sportplatz, auf dem weiß gekleidete Männer mit einer Art kurzem Holzruder Bälle schlugen. Hinüberzugehen traute ich mich aber nicht. Ich beschloss, nur Leute anzusprechen, die nach Satterthwaite Hall wollten, obwohl solche Leute noch nirgends zu sehen waren.
    Autos kamen, andere fuhren wieder ab. Endlich, als ich etwa eine halbe Stunde an der Mauer gelehnt hatte, kamen gleich mehrere Besucher gleichzeitig … und ich stand unversehens vor einer Frage, die ich mir bis dahin noch gar nicht gestellt hatte! Wie um alles in der Welt sollte ich unter diesen Fremden den Menschen herausfinden, der für mich bestimmt war?
    Ich hatte es beängstigend gefunden, von Leuten, die mich nicht einmal kannten, den Winterbottoms zugewürfelt zu werden. Nun stellte ich fest, dass die Alternative nicht weniger beunruhigend war: spontan eine Entscheidung zu treffen über die Menschen, mit denen ich leben wollte – und wer wusste schon, wie lange das sein würde?
    Und was, wenn ich mit irgendwelchen Leuten handelseinig wurde und dann, wenn alles entschieden war, noch ein Paar auftauchte, dem ich schon von Weitem ansah, dass in Wirklichkeit sie diejenigen waren, dass ich einen Fehler gemacht hatte, dass ich nur zwei Minuten länger hätte warten müssen …?
    Das Gewicht der bevorstehenden Entscheidung lähmte mich derart, dass ich von den ersten Besuchern, die durch das Tor traten, keinen einzigen ansprach. Weitere Zeit verging, die sich endlos in die Länge zog. Dann sah ich wieder ein Paar die Mauer entlang auf mich zukommen, gefolgt von zwei älteren Damen.
    Jetzt! Todesmutig stellte ich mich

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