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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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mich erhofft hatte, als sie mich gegen meinen Willen auf den Kindertransport schickte. Sicherheit vor den Nazis, gewiss … doch darüber hinaus hatte sie mir nicht weniger als das Geschenk gemacht, wieder Mensch werden zu dürfen. Ein Mensch, dessen Ankunft gefeiert wurde. Ein Mensch, der nicht mehr beschimpft, nicht mehr gedemütigt, nicht mehr gejagt werden würde. Ein Mensch, der erfahren durfte, dass er willkommen war.
    Wie ein kleines Kind seinen ersten Schrei tut, feierten wir in dieser Nacht die Stunde unserer zweiten Geburt. Ich stelle mir gern vor, dass man unseren singenden, tanzenden, jauchzenden Zug an jeder einzelnen Station auf unserem Weg durch Holland gehört haben muss.
    Und es muss leider auch gesagt werden, dass die Party im Zug den meisten von uns nicht besonders gut bekam. Kaum hatte ich meinen Fuß auf das Unterdeck der Harwich II gesetzt, begann ich zu wünschen, ich hätte weniger Schokolade in mich hineingestopft.
    Ich warf einen Blick in die fensterlose Kabine, die ich mir mit Luise und Tessa teilen sollte, und konnte förmlich spüren, wie sämtliche Eingeweide Richtung Speiseröhre drängten. »Ich geh mal kurz an die frische Luft«, ächzte ich und war schon wieder auf dem Weg nach oben.
    Der Schiffsbauch stampfte und stöhnte unter den Wellen, die von außen gegen die Fähre schlugen. Ich hielt mich am Treppengeländer fest und wankte Schildern mit der Abbildung eines Rettungsringes nach. Von hinten bekam ich einen Schubs, als unsere Betreuerin Marita an mir vorbeitaumelte und hastig hinter einer Tür mit der Aufschrift Lavatory verschwand. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, bedeutete Lavatory offensichtlich Klo.
    Ich schaffte es immerhin bis zum Oberdeck. Ich beugte mich weit über die Reling und schnappte nach Luft; ein eiskalter Geruch nach Salz und Fisch fuhr in mich und kam mitsamt allem wieder hervor, was ich zum Frühstück der Unterwasserbewohner im Ärmelkanal beitragen konnte.
    »Eines der obersten Gesetze der Seefahrt«, sagte Walter Glücklich und reichte mir ein Taschentuch. »Kotze nie gegen die Windrichtung.«
    »Hab ich doch gar nicht«, protestierte ich schwach, nahm sein Taschentuch aber an und wischte mir die Tränen aus den Augen. Er riet mir, draußen zu bleiben: »Schau auf einen Punkt am Horizont, dann wird es schnell besser!«
    Ich tat wie mir geheißen und merkte, dass innerhalb kürzester Zeit meine Finger an der Reling festfroren, die Beine aber wieder brauchbar wurden und festen Halt gewannen. Walter blieb vorsichtshalber dicht hinter mir stehen, ein seltsames, aber nicht unangenehmes Gefühl. Der eisige Wind sprühte Gischt in mein Gesicht, schwarze Wellen wogten und tobten mit solchem Getöse, als müssten wir daran erinnert werden, dass es nicht selbstverständlich war, nach England hinübergelassen zu werden.
    »Hast du drüben schon eine Adresse?«, schrie Walter Glücklich, um Wind, Wellen und das Dröhnen der Motoren zu übertönen.
    »Ja, und du?«, schrie ich zurück und fand es toll, dass ein so großer Junge mit mir sprach.
    »Ich fahre zu meinem Vater, der ist schon in London.«
    »Und deine Mutter?«
    »Vor zwei Jahren gestorben. Blinddarmdurchbruch.« Bevor mich die Antwort erschrecken konnte, lachte er schon wieder. Er hatte fröhliche Augen und braune Locken und neigte ein wenig zum Dickwerden. »Wie heißt du eigentlich?«, wollte er wissen.
    »Ziska Mangold. Und ich hole meine Eltern nach!«
    »Viel Glück! Es gibt ein Kaffeehaus in der Tottenham Court Road, das Café Vienna . Dort können sie dir vielleicht weiterhelfen!«
    Café Vienna , wiederholte ich in Gedanken und konnte es kaum fassen: Ich hatte England noch nicht einmal erreicht und dennoch schon herausgefunden, wohin ich mich wegen meiner Eltern wenden konnte!
    Eine besonders hohe Welle schlug krachend gegen das Schiff, drückte es mit jähem Schwung nach oben und ließ es so tief wieder fallen, dass Wasser über das Deck klatschte. Ich klammerte mich an die Reling und fürchtete mich nicht einen Augenblick. Der winterliche Sturm auf dem Meer schien so passend, beinahe tröstlich, als ob Gott selbst auf den Aufruhr in unserem Leben eine machtvolle Antwort gab! Als die nächste Welle kam, riss ich den Mund auf und schrie dagegen an, so laut ich konnte.
    Bald! Bald würden Mamu und Papa nachkommen! Im unbändigen Wind der Freiheit, der von der englischen Küste herüberwehte, kam mir alles so wunderbar leicht vor.
    Seit ich ihre Adresse erhalten hatte, hatte ich mir Gedanken

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