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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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von zu Hause immer wieder vorzulesen. Aber Bekka war weit weg, und die anderen Kinder kamen und gingen. Satterthwaite Hall war eine Durchgangsstation und im Grunde warteten wir alle nur gespannt, voller Hoffnung und Angst auf den Sonntag.
    Der Sonntag war die einzige Möglichkeit, hier herauszukommen. Sauber, ordentlich und mit aufgeschlossenem Lächeln saßen wir an unseren Plätzen im Essraum, durften künftigen Pflegeeltern in unserem besser werdenden Englisch auf Fragen antworten … und konnten dennoch auf fünfzig Meter erkennen, dass die meisten nur nach den Kleinen schauten.
    Ich hasste diese Blicke. Sie kamen aus lächelnden Gesichtern mit nervösen Augen, die mal hierhin, mal dorthin schweiften; manche hatten etwas Entschuldigendes, fast Verschwörerisches: »Das hier ist wirklich furchtbar, aber ihr wisst ja, es geht nicht anders …«
    Ich wusste, dass sie Recht hatten. Ich ertrug es trotzdem nicht, von Blicken gestreift, taxiert und wieder losgelassen zu werden. Welches Bild von mir hatten diese blitzschnellen, flüchtigen Sensoren wohl eingefangen, dass ich ihren Eigentümern nach ein, zwei Sekunden schon wieder aus dem Kopf verschwand? Ich gab mir solche Mühe, nichts von dem preiszugeben, was seit der Abfahrt von zu Hause in mir vorging – die heimlichen Tränen, die nächtlichen Albträume, in denen ich wieder und wieder dem »Wolf« davonrannte, bis eins der anderen Kinder mich verärgert aufweckte.
    Woher also konnten dieses junge Paar, diese ältere Frau, diese Familie wissen, dass sie keinen Fehler machten, wenn sie jemand anderes als mich mit nach Hause nahmen?
    »Du grübelst zu viel«, behauptete Frau Werner, die einzige deutschsprachige Helferin in Satterthwaite Hall . »Ja, man sieht dir an, dass dir ständig etwas im Kopf herumgeht.«
    Mehr sagte sie nicht, aber ich malte mir von Stund an entsetzt aus, dass meine unpassenden, verqueren Gedanken offenbar für alle sichtbar waren. Am nächsten Sonntag versuchte ich mit aller Konzentration, an nichts zu denken, aber das war anstrengender, als ich mir vorgestellt hatte. »Dir ist es ja heute gar nicht gut gegangen«, meinte Frau Werner. »Vielleicht sollten wir dich einmal dem Arzt vorstellen.«
    Ich machte mir nichts vor. Ich war ein Ladenhüter. Ich verstand, dass sie in Satterthwaite Hall anfingen, sich Sorgen zu machen.
    Mit wachsender Unruhe wartete ich von Tag zu Tag auf Nachricht von meinen Eltern. Mein Vater war krank aus Sachsenhausen entlassen worden und meine Mutter schrieb zwar nicht, was ihm fehlte, aber es gehörte zu den Dingen, die man instinktiv ahnt, nach denen man nicht zu fragen braucht. »Papa meint, wir hätten ohne ihn nach Shanghai fahren sollen«, schrieb Mamu. »Jetzt warten wir auf die Bewilligung des neuen Ausreiseantrags – egal wohin.«
    Egal wohin? Ich war entsetzt. Sie hatten mich nach England geschickt, also war doch wohl klar, dass dies der Ort war, an den sie mir nachkommen mussten! Immer bedrückender legte sich auf mich, dass unsere Zukunft von mir abhing – doch wie sollte ich sie aus Deutschland herausholen, wenn mir nicht einmal gelang, Satterthwaite Hall zu verlassen?
    Zu Hause schienen die Dinge schlimmer zu werden. Meine Mutter klagte über die Mühseligkeit des Lebens ohne Auto und Führerschein, den sie hatte abgeben müssen, schrieb von knapper werdendem Geld und zunehmenden Schwierigkeiten beim Einkaufen. Sie berichtete von Papas schwachem Herzen, das all diese Schläge so schwer verkraftete, dass sie versuchte, sie so weit es ging vor ihm zu verbergen. So glaubte er zum Beispiel immer noch, unser Auto stünde gleich um die Ecke bei Meyers in der Garage.
    Dann wieder unterhielt sie mich seitenlang mit lebhaften Schilderungen der jüngsten Gefechte mit Tante Ruth, die noch an Schärfe zugenommen hatten, seit Papa eingezogen war. Mamus beißender Humor ging dabei geradewegs mit ihr durch und ich sah die beiden Frauen, die sich am Küchentisch zankten, so lebendig vor mir, als säße ich selbst dabei.
    Doch so angestrengt ich es auch versuchte: Mir Papa in Tante Ruths Wohnung vorzustellen, gelang mir nicht. Wenn ich an Papa dachte, sah ich nichts als nackte weiße Füße in Pantoffeln und einen blutigen Handabdruck an der Wand und musste jeglichen Gedanken an ihn auf der Stelle abbrechen. Ich konnte nur hoffen, dass mir irgendwann einmal jemand einen Trick verriet, wie man die Bilder im Kopf neu mischte, sodass ein anderes zuoberst lag.
    Meinen verpatzten Abschied erwähnte Mamu mit keinem

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