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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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fühlte, völlig entgegenstanden. Nach allem, was mir soeben widerfuhr, hätte ich es angemessen gefunden, nicht zu schlafen, nicht zu essen, nicht mit den anderen Mädchen zu reden und mich vor allem nicht ständig zu fragen, was mich als Nächstes erwartete. Aber die neue Ziska stellte sich den anderen vor, fraß ihr Fresspaket, wurde schläfrig vom gleichmäßigen Rattern des Zuges und schloss die Augen mit dem Gedanken: In dreißig Stunden sind wir in England.
    Essen, schlafen, planen – als ob es noch eine Zukunft geben konnte! Mit einer leisen, aber beharrlich nagenden Verzweiflung hasste ich mich selbst dafür und konnte dennoch nichts dagegen tun, dass dieses fremde Mädchen zunehmend von mir Besitz ergriff. Und als ich aufwachte, merkte ich, dass wir schon nahe der holländischen Grenze sein mussten. Anders konnte ich mir die Unruhe im Zug nicht erklären. Es war in den frühen Morgenstunden und unter den Älteren ging die Angst um. »Was, wenn sie uns wieder zurückschicken?«
    Mit geschlossenen Augen lehnte ich an der Trennscheibe zwischen Gang und Abteil und hörte zu, wie Greta mit Vera flüsterte. »Wir dürfen uns nicht bewegen, das ist das Wichtigste! Sieh sie am besten gar nicht an, wenn sie zu uns reinkommen.«
    »Ich habe gehört, dass sie ein Kind aus jedem Abteil zur Befragung mitnehmen«, erwiderte Vera nervös.
    »Dann nehmen sie hoffentlich die mit dem Kreuz«, sagte Greta gehässig.
    Es dauerte einen Augenblick, bis ich erkannte, dass sie von mir sprach. »Ziska ist schon in Ordnung«, meinte Vera, aber ihr kurzes Zögern war nicht zu überhören.
    »Woher wissen wir, ob sie überhaupt Jüdin ist?«, gab Greta zurück.
    »Es sind nicht nur Juden auf den Kindertransporten. Es sind auch Kinder von Kommunisten dabei oder von Widerstandsleuten, die im Gefängnis sitzen.«
    »Ich finde, sie hätten nur uns Juden mitnehmen sollen«, brummte Greta.
    Ich schlug die Augen auf. »Ich bin Jüdin«, sagte ich böse. »Wenn du’s nicht glaubst, kannst du in meinem Pass nachsehen.«
    Wir funkelten uns an. »Nun hört schon auf!«, sagte Vera ärgerlich. »Eine Tante von mir ist auch Christin geworden. Meine Lieblingstante! Genützt hat es ihr aber nichts.«
    Ich sah Greta an, dass sie noch eine Bemerkung auf der Zunge hatte, aber in diesem Moment spürten wir es: Der Zug wurde langsamer! Erschrocken richteten wir uns auf. Luise, die Greta gegenüber am Fenster saß, legte beide Arme über die Scheibe und presste ihre Stirn dagegen. »Ich sehe Gebäude«, meldete sie. »Und lange Schatten … das könnten Züge sein. Wahrscheinlich ein Abstellgleis. Ja, jetzt kommt der Bahnhof! Und da stehen sie schon …«
    Sie lehnte sich jäh zurück in den Sitz und wurde ganz blass. Keine von uns sagte auch nur ein einziges Wort, während wir in den erleuchteten Bahnhof einfuhren und die großen, braun und schwarz uniformierten Gestalten ins Blickfeld kamen, die uns bereits erwarteten. Die steifen schwarzen Mützen mit dem Totenkopfabzeichen der SS schwebten wie in Zeitlupe am Fenster vorbei. Der Zug hielt quietschend, Lichter gingen an und Waggontüren öffneten sich, gleich darauf hörten wir schwere Stiefelschritte auf dem Gang und das Auf- und Zurollen der Abteiltüren. Merkwürdigerweise keine Stimmen. Es war gespenstisch – als gingen sie durch einen völlig leeren Zug.
    Ich starrte auf den Boden, als die Tür neben mir mit einem Ruck aufgezogen wurde. Ein blank geputztes Paar Stiefel erschien, blieb stehen und bewegte sich nicht. Mehrere Sekunden vergingen. »Ziska!«, wisperte Vera und stieß mich leicht in die Seite.
    Ich blickte auf. Der Nazi sah auf mich herab, ein Gesicht wie in Stein gemeißelt, und machte einen ungeduldigen kleinen Schlenker mit der Hand. Jeweils zwei von uns mussten im Abteil bleiben, während ihre Koffer durchsucht wurden, die anderen so lange auf dem Gang warten. Mit steifen Knien quetschte ich mich an dem Riesen vorbei, der den Türrahmen ausfüllte. Es können kaum mehr als zwanzig Zentimeter Platz gewesen sein; trotzdem gelang es mir hinauszuschlüpfen, ohne ihn zu berühren. Vera, Fanny, Gabi, Marion und Jette folgten.
    Eine kleine, mucksmäuschenstille Schar wartete bereits vor den Abteiltüren. Ich hörte, wie einigen Kindern die Zähne klapperten. »Bleibt ganz ruhig«, sagte ein Junge neben mir. »Sie suchen nur nach Wertsachen. An uns sind sie nicht interessiert.«
    Ich blickte ihn von der Seite an. Er war groß und kräftig, mochte in Thomas’ Alter sein, wirkte aber

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