Liverpool Street
schon fast wie ein Erwachsener. Er bemerkte meinen Blick und zwinkerte mir zu.
Schlagartig ging es mir besser. »Ich habe eine Kette«, flüsterte ich. »Hoffentlich nehmen sie sie mir nicht ab.«
Der Junge flüsterte zurück: »Du kannst einen Brillanten von mir haben. Den legst du obenauf in deinen Koffer und ich versichere dir, niemand spricht mehr von deiner Kette!«
Trotz meiner Angst musste ich lachen. Der Junge sah nicht aus, als ob er jemals auch nur in die Nähe eines Brillanten gekommen wäre. Viele Kinder waren wie ich für die Fahrt noch einmal ganz neu eingekleidet worden, aber er gehörte mit Sicherheit nicht dazu. Er steckte in einem langen, abgetragenen Mantel aus grobem Stoff und trug Stiefel, die an der Seite bereits geflickt waren.
»Du bist nicht aus Berlin, oder?«, flüsterte ich. Ich konnte mich nicht erinnern, ihn in dem Saal im jüdischen Gemeindehaus gesehen zu haben. Das war nicht weiter verwunderlich, da ich auf die anderen Kinder kaum geachtet hatte, aber unerklärlicherweise hatte ich plötzlich das Gefühl, dass ich ihn hätte sehen müssen, wenn er da gewesen wäre.
»Walter Glücklich«, sagte er leise, »aus Hamburg. Und ehe du fragst: Ja, ich heiße wirklich so!«
Walter Glücklich, wiederholte ich im Stillen. Das ist der schönste Name, den ich je gehört habe!
Unsere Abteiltür ging auf, Greta und Luise kamen mit Tessa heraus, Vera und Fanny wurden hineingewunken. Gleichzeitig schoben sich ein SA- und ein SS-Mann durch den Gang, ließen sich unsere Pässe zeigen und verglichen die lächelnden Kinder auf den Fotos mit den schreckerstarrten Gesichtern, die zu ihnen aufschauten. Als der in der schwarzen SS-Uniform vor mir stand und einen langen Blick auf mich warf, fühlte ich eine Kälte in mir aufsteigen, als würde alles, was an mir lebendig war, direkt in den Schatten unter seiner Mütze gesaugt.
Jette und ich sahen uns nicht an, als wir an die Reihe kamen. Der Braune, der unser Gepäck durchsuchte, türmte wortlos Kleidungsstücke neben dem Koffer auf, fasste alles an, drückte darauf herum und ließ die Hände mit geübten Bewegungen in sämtliche Hosen- und Rocktaschen fahren. Mir wurde beinahe schwarz vor Augen, als mir einfiel, dass Mamu zwanzig Reichsmark in meine Hosennaht eingenäht hatte, aber der Geldschein blieb unbemerkt. Ohne dies weiter zu kommentieren, nahm der Mann stattdessen ein Briefmarkenalbum aus Jettes Koffer und legte es beiseite. Ich sah, wie sie den Blick nicht davon wenden konnte und erschrockene Fragen sich auf ihr Gesicht malten, wie sie die Lippen zusammenbiss, sich damit abfand und von ihrem Album Abschied nahm. Der Nazi klemmte es beim Hinausgehen unter den Arm; vielleicht hatte er ein Kind zu Hause, das Briefmarken sammelte.
Schweigend drängten unsere Reisegefährtinnen ins Abteil zurück. Greta öffnete eine Tüte Kekse und hielt sie uns hin, auch mir; womöglich tat es ihr leid, dass sie mir auch noch eine Befragung an den Hals gewünscht hatte. Ich nahm einen Keks, obwohl mir die Kehle wie zugeschnürt war, und kaute den ersten Bissen wie auf Sand.
Ich bekam gar nicht mit, wie der Zug wieder anrollte. Ich verstand nicht, woher das Gebrüll kam, das plötzlich aufbrandete und wie eine Welle von Abteil zu Abteil rollte. Ich brauchte eine geschlagene Minute, um zu erkennen, dass es die anderen Kinder waren, die es nicht mehr auf ihren Sitzen hielt, die wild durcheinanderhopsten und jubelten und sich gegenseitig aus den Abteilen in den Gang zerrten.
Wir waren in Holland. Wir hatten es geschafft. Wir waren frei.
Der Unterschied hätte nicht größer sein können. Eben noch hatten wir vor den Nazis gestanden, die nicht ein einziges Wort hatten sprechen müssen, um lähmende Angst zu verbreiten. Und dann, keine Viertelstunde später, hielt der Zug an einem Bahnhof hinter der Grenze noch einmal an und ließ lächelnde Frauen mit großen Körben an Bord, die Äpfel, ganze Schokoladentafeln und heißen Tee verteilten. Sie hatten wunderbar gütige Gesichter, redeten in herzlichen, kehligen Lauten auf uns ein und nahmen die Kleineren in den Arm. Welkom, welkom! Man musste kein Holländisch können, um das zu verstehen.
Die Nazis waren der Albtraum, den wir gewohnt waren. Der größere Schock waren die Holländerinnen mit ihrer Schokolade. Keiner von uns hatte sich ausmalen können, dass direkt hinter der deutschen Grenze eine so völlig andere Welt begann.
Und ich weiß, es war hier, dass ich zum ersten Mal spürte, was meine Mutter für
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