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Liverpool Street

Liverpool Street

Titel: Liverpool Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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einmal tat sie mir beinahe leid. Dr. Shepard und Gary begleiteten sie hinaus.
    »Bedaure sie nicht zu sehr«, sagte Mrs Shepard zu mir. »Eine kleine Niederlage schadet ihnen nichts. Sie haben uns wirklich das Leben schwer gemacht.«
    »Das hab ich gesehen«, antwortete ich verlegen. »Tut mir leid wegen gestern Abend.«
    »Schon gut. Ich hätte dir von Anfang an die Wahrheit sagen sollen. Fühlst du dich sehr einsam bei uns?«
    »Ach. Das ist schon längst vorbei. Ich war erst nur ein bisschen …«
    »… verwirrt?« Sie lachte leise, beugte sich über den Tisch und ich dachte schon, sie wolle meine Hand nehmen, aber stattdessen fuhr sie nur ganz zart mit dem Finger darüber. »Glaub mir, das ging mir anfangs genauso. Aber du hast so schnell gelernt, viel schneller als ich!«
    Dr. Shepard und Gary kamen zu uns zurück und setzten sich. Einige Sekunden verstrichen. Dann gab Gary mir einen zufriedenen kleinen Tritt unter dem Tisch und Dr. Shepard hob sein Glas. »Gelobt seist du, Adonaj, unser Gott, König der Welt, der Gute und Gutes Erweisende, der du uns belebt, erhalten und bis hierher geführt hast …«
    Das Schehechejanu, das Gebet für alles Neue, das er auch an meinem Ankunftstag gebetet hatte. Damals war es nur eine Geste für mich gewesen. Nun spürte ich es.
    Ich war angekommen. Ich war nicht mehr Ziska, weder die alte noch die neue. Von nun an war ich Frances und würde nie wieder eine andere sein wollen.

Zweites Buch
    VERDUNKELUNG
    (1939–1940)

10
    Legte ich mich auf den Rücken dicht neben den Fliederbusch und sah durch Zweige und Blüten zum blaugrauen Frühlingshimmel auf, konnte ich oft nicht widerstehen: Dann schloss ich einfach die Augen und ließ meine Finger ganz langsam in die Erde wachsen. Sie war unter dem Strauch noch hart vom Winter, ich musste ein wenig kratzen und bohren, aber nicht zu schnell, nicht zu schnell!
    Pflanzen verkümmerten, wenn man ihnen keine Zeit zum Wurzeln gab, hatte Amanda gesagt, die eine Art Logbuch über ihren Garten führte und es also wissen musste. Sorgfältig trug sie darin ein, welche Gewächse miteinander konnten, an welchen Stellen im Garten sie sich am wohlsten fühlten und wie viel Platz und Zeit sie brauchten, damit sie kräftig genug wurden, um zu blühen.
    Und die Winterruhe, schärfte sie mir ein, die Winterruhe sei lebenswichtig! Mittlerweile war ich überzeugt, dass auch meine große Müdigkeit daher rührte, dass ich in diesem Jahr keine Winterruhe gehabt hatte. Meine Abreise aus Deutschland, Satterthwaite Hall, der Einzug bei den Shepards, die neue Schule, die neue Sprache, das Café Vienna, meine heimlichen Haustürbesuche und jüdischen Fragen  … all das war in nicht mehr als drei Monate hineingestopft worden, und wenn man Amandas Logbuch konsultierte, kam man schnell dahinter, dass Wurzeln, die sich gleichzeitig nach überallhin ausstreckten, nicht hielten.
    Zum Glück war noch nichts verloren. Es gab auch Spätblüher. Sie nahmen sich ihre Ruhe im Frühling und ich war ganz zuversichtlich, dass auch ich wieder zu alter Form zurückfinden würde, wenn ich lange genug nichts tat. Nichts Ermüdendes zumindest: keine Heimlichkeiten und keine Haustürbesuche, nichts, was mit Deutschland zu tun hatte. Bald würde ich weitermachen, würde meinen Eltern helfen, mit ganzer Kraft – aber im Augenblick brachte ich es einfach nicht fertig, mich länger vom Haus zu entfernen, als es zum Schulbesuch und zum zweimal wöchentlichen Hebräischunterricht unbedingt erforderlich war.
    Danach radelte ich so schnell wie möglich zurück und fühlte, noch bevor ich um die Straßenecke in den Harrington Grove bog, Freude in mir aufsteigen – eine Freude, die wuchs und mich mit immer größerer Wärme erfüllte, je näher ich unserem kleinen Haus kam. Ich warf meine Schultasche neben die Treppe, wie alle Kinder, ging weiter durch den Flur in die Küche und wusste, wie alle Kinder, was mich erwartete: Amanda und Millie beim Zubereiten des afternoon tea oder supper  – je nachdem, zu welcher Zeit ich eintraf –, ein Willkommenskuss und die unvermeidliche Frage: »Wie war’s in der Schule?«
    Wir tranken den Tee gleich in der Küche, mit reichlich Zucker in meinem Glas, Millie auf dem Platz gegenüber und Amandas Schulter so dicht neben meiner, dass ich mich anlehnen und es darauf schieben konnte, dass ich einen anstrengenden Tag gehabt hatte. Diese Ausrede brauchte ich noch, ich war grundlose Zärtlichkeiten nicht gewohnt; mit Ausnahme der

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