Liverpool Street
über meine Mum wissen solltest«, sagte Gary.
Als er klein war, hatte er gedacht, es müsse so sein. Es gäbe da nur ihn, seine Mutter und seinen Vater, obwohl andere Großeltern, Onkel und Tanten, Geschwister hatten. Er war ungefähr sieben, als er zum ersten Mal fragte. Seine Mutter setzte sich zu ihm und sie schrieben miteinander zwei Briefe. Der eine, an die O’Learys in Dublin, kam ungeöffnet zurück. Dem anderen folgte ein Besuch seiner Großeltern Shepard, die sich zögernd entschlossen, ihren einzigen Enkel kennenzulernen. Zu dem Zeitpunkt wusste Gary noch nicht, dass er ihrer Meinung nach kein Recht zu leben hatte.
Der jährliche Besuchstag wurde eingerichtet. Nie wurden Gary und seine Eltern nach Sussex eingeladen, in das große Haus am Meer, von dem sein Vater ihm erzählt hatte. Seine Großeltern kamen nach London, und sie kamen, um ihn zu besuchen, ihn allein. Wenn sie das Haus betraten, begann Gary zu frieren, sodass er sich angewöhnte, in ihrer Anwesenheit warme Pullover zu tragen. Und trotz allem spürte er, dass ihnen etwas an ihm liegen musste, dass sie ihn lieben wollten, aber einfach nicht wussten, wie.
»Immerhin sind sie diejenigen, die immer wiederkommen, obwohl es ihnen schwerfällt«, sagte er bitter. »Die anderen geben uns nicht einmal eine Chance.«
Die O’Learys hatten das Leben ihrer ältesten Tochter genau geplant. Amanda durfte bis sechzehn die Schule besuchen, dann für ein Jahr nach London, um als Fernmeldegehilfin Kriegsdienst zu leisten, und nach ihrer Rückkehr würde man sie mit geeigneten jungen Männern bekannt machen. Die O’Learys hatten nichts gegen Juden. Sie hatten über Juden noch nie nachgedacht, schließlich kannten sie keine. Doch als Amanda, aus London zurück, ihnen Matthew Shepard vorstellte, müssen sie instinktiv gespürt haben, dass da etwas fürchterlich falschlief. Nach einem einzigen, durchaus freundlich verlaufenen Abend machten sie ihrer Tochter klar, dass sie diesen jungen Mann selbstverständlich nicht wiedersehen dürfe.
Es war auch nicht so, dass sie sofort außer sich gerieten, als sie merkten, dass ihr Verbot übertreten wurde. Sie vertrauten darauf, dass ihre Tochter von selbst zur Vernunft kommen und jemanden aus ihrem eigenen Kulturkreis wählen würde. Ein Protestant wäre schon eine Katastrophe gewesen, aber ein Jude! Die verunsicherten O’Learys wandten sich an ihren Priester, der riet zu härteren Maßnahmen. Amanda wurde in ihrem Zimmer eingesperrt.
»Mum ist aus dem Klofenster im ersten Stock gesprungen«, erzählte Gary. »Erst am nächsten Tag hat sie gemerkt, dass sie sich den Fuß gebrochen hatte, aber da war sie schon in London. Dad hat sie bei Freunden untergebracht, weil sein Rabbiner ihnen nicht helfen wollte.«
»Bist du meschugge?«, hatte der Rabbiner getobt. »Ich soll eine Goj beherbergen?« Ein abfälliges Wort für Nichtjuden, das ich noch nie gehört hatte.
»Sie wird zum Judentum übertreten«, erhielt er zur Antwort.
»Aber nicht bei mir! Eine Katholikin kann keine Jüdin werden. Niemals. Sie wird nie etwas anderes sein als eine konvertierte Goj …«
Sie fanden einen anderen Rabbiner, der Amanda unterrichtete, und anderthalb Jahre nach ihrer Flucht von zu Hause trat sie formell zum Judentum über. Es folgte eine Hochzeit nach jüdischem Ritus, unter einem Baldachin, mit einem zertretenen Trinkglas, Tänzen und Gesängen, doch ohne einen einzigen Verwandten. Das Brautpaar zog nach Camden, in eine große Wohnung, da sie sich viele Kinder wünschten, und lebte streng nach der Kaschrut und der Halacha, den jüdischen Reinheitsgesetzen und rituellen Anweisungen.
Zwei Jahre später äußerte ein Arzt die Vermutung, ausgerechnet die Halacha könne der Grund dafür sein, dass sich die ersehnten Kinder bei den Shepards nicht einstellten. »Für die Dauer der Blutung plus sieben Tage«, erklärte Gary verlegen, »darf ein Mann seine Frau nicht anrühren. Das sind meist zwei Wochen, doch manchmal auch länger, und dann können die fruchtbaren Tage vorbei sein. Man spricht von Unfruchtbarkeit aus Gründen der Halacha.«
Ich blätterte angestrengt in meinem Wörterbuch. »Was denn für Blut?«, fragte ich ihn verdutzt. »Und wie denn anrühren?«
Gary wurde rot. »Also hör mal, ich werde ganz bestimmt nicht derjenige sein, der dir das erklärt! Ich will lediglich sagen, dass meine Eltern ein Gesetz übertreten haben, um mich zu bekommen. Beinahe wären sie aus der Gemeinde ausgeschlossen worden. Heute wissen es nur
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